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Tag der Vergeltung

Tag der Vergeltung

Titel: Tag der Vergeltung
Autoren: Liad Shoham
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die anderen Journalisten, sollten sie etwas in der Hand haben, an der Veröffentlichung hinderte.
    Wieder klingelte sein Handy. Was will er jetzt schon wieder? Amit kochte innerlich. Auf dem Display stand »Unbekannt«. War es der Anruf von »Deep Throat«, den er so dringend erwartete?
    Er sah sich nach einem Ort um, wo er in Ruhe telefonieren könnte, doch überall herrschte Unruhe.
    »Hallo«, schrie er in den Hörer.
    Hinter ihm heulte eine Polizeisirene.
    »Hallo«, schrie er wieder.
    Der Anrufer legte auf.

4
    Jaron Regev saß in seinem Wagen, das Haus, in dem seine Tochter wohnte, fest im Blick. Wie lange er hier Wache halten müsste, war ihm egal. Von ihm aus nächtelang, monatelang, jahrelang, bis er darauf bauen konnte, dass es ihr besser ging. Hatte er etwa nicht ganze Nächte an ihrem Bett verbracht, wenn sie als kleines Kind schlecht geträumt hatte? Was war daran so anders? Für ihn war sie nach wie vor seine kleine Tochter.
    Er öffnete die Dose mit den belegten Broten, die Irith ihm gemacht hatte. Obwohl sie der Meinung war, er würde übertreiben und sie sollten Adis Entscheidung, in ihre Wohnung zurückzukehren, respektieren, stand die Brotdose jeden Abend für ihn bereit.
    Rasch wickelte er das belegte Brot aus und warf das zerknüllte Papier auf den Beifahrersitz. Auf seiner Rückfahrt in den frühen Morgenstunden würde er das ganze Papier, die Snack-Verpackungen und leeren Kaffeebecher entsorgen.
    Unter Umständen hatte Irith recht und er musste damit aufhören, doch eben das konnte er nicht. Wenn Adi ihn brauchen würde – wäre es auch nur für eine klitzekleine Sache –, wollte er zur Stelle sein, ihr beistehen, und zwar binnen drei Minuten.
    In letzter Zeit hatte er viel an Adis Kindheit zurückgedacht. Er entsann sich ihrer ersten Schritte, ihrer ersten Worte, wie er sie in den Kindergarten gebracht und mitunter auch wieder abgeholt hatte. Wie sie dann auf ihn zugerannt und ihm um den Hals gefallen war, wie sie mit ihren kleinen Armen sein Bein umklammert hatte, nicht wieder loslassen wollte und gelacht hatte. Vor allem wie sie gelacht hatte. Ein schallendes Lachen, das die gesamte Familie ansteckte und ihm unendliches Glück bescherte.
    Die Erinnerung an diese Zeit ging ihm durch Mark und Bein, denn Adi hatte aufgehört zu lachen. Sie saß nur noch still da, in sich gekehrt, starrte ihre Hände an, die auf den Knien ruhten, und weinte. Weinte ohne Unterlass. Lautlos, doch ihre Tränen trommelten wie bei der chinesischen Wasserfolter auf sein Herz.
    Seit dem Vorfall hatte er das Gefühl, jeden Moment in Einzelteile zersprengt zu werden. Er gab sein Bestes, um stark zu sein für Adi, für Irith, spürte aber, wie ihn die Kräfte verließen, wie er allmählich den Verstand verlor. Er brachte nichts zuwege. Konnte sich auf nichts konzentrieren. Vermochte weder zu schlafen noch zu arbeiten.
    Gelang ihm das Einschlafen, suchten ihn Albträume heim. Adi lag auf dem Boden, vor Entsetzen außer sich, flehte um ihr Leben, und ein fremder Mann, eine Bestie von einem Menschen ohne Gesicht, verging sich an ihr. Mit schreckgeweiteten, tränennassen Augen sah sie ihn an, rief um Hilfe. Er rannte zu ihr, wollte ihre Hand greifen, sie von dort wegholen, konnte aber nicht zu ihr gelangen. Kalter Schweiß trat auf seine Stirn. Er wollte schreien, aus vollem Hals, war aber keines Wortes mächtig. Nicht mal zu einem Schluchzen war er imstande. Was hätte er darum gegeben, weinen zu können.
    * * *
    Ein Lied aus dem Radio, mit penetrantem Rhythmus, riss ihn aus dem Schlaf. Sich die ganze Nacht im Sitzen wach zu halten war eine Tortur, auch wenn er Irith das Gegenteil weismachte. Nicht eine Stelle an seinem Körper, die ihm nicht wehtat. Nickte er für einige Minuten ein, schreckte er kurz darauf entsetzt hoch, nickte dann wieder ein, und so ging es in einem fort. Halb schlafend, halb wachend. Nacht für Nacht. Seit drei Wochen. Ohne Unterbrechung. Den Schlaf versuchte er tagsüber zu Hause oder auf der Arbeit nachzuholen, wenn Adi ebenfalls arbeiten war, an einem sicheren Ort, wie er hoffte.
    Er beugte sich leicht nach vorn, um auf die Uhr zu schauen. Sein Nacken war steif. Es war halb zwei. Adi schlief sicher schon. Sollte er nach Hause fahren und sich ebenfalls ein paar Stunden hinlegen? Irith würde es begrüßen.
    Er stellte die Rückenlehne senkrecht und wollte gerade den Motor starten, doch dann hielt er inne. Und wenn sie plötzlich aufwachen und ihn brauchen würde?
    Er lehnte sich wieder zurück
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