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Tabu: Roman (German Edition)

Tabu: Roman (German Edition)

Titel: Tabu: Roman (German Edition)
Autoren: Ferdinand von Schirach
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schmaler Streifen fiel durch die Schiebetür auf die Dielen, das Holz sah aus wie dunkler Samt.
    »Es ist schön, dass du hier bist«, sagte der Vater. Seine Stimme war verwaschen.
    »Soll ich das Licht anmachen?«, fragte Sebastian.
    »Nein, bitte nicht«, sagte der Vater.
    Draußen schrie ein Habicht. Sebastian wurde schläfrig. Er sah das Profil des Vaters im Halbdunkel, seine hohe Stirn, die eingefallenen Wangen. Er hörte den Vater atmen. Es schien ihm, als wolle der Vater etwas sagen, als suche er nur noch die Worte. Aber der Vater sagte nichts.
    Sebastian war im Sessel eingeschlafen. Als er es hörte, rannte er im Dunkeln die Treppen runter bis zur Haupthalle im Erdgeschoss, er stolperte, schlug sich das Knie auf und rannte weiter über den Gang bis zum Arbeitszimmer. Er riss die Tür auf.
    Nur die Schreibtischlampe brannte, neben ihr lag eine Pappschachtel mit Munition, Schrotpatronen mit hellroten Hülsen, Kaliber 12/70. Sebastian ging vorsichtig um den Schreibtisch herum. Vaters Tweedanzug war an Armen und Knien schon dünn, das grüne Taschentuch hing aus der Brusttasche. Sein linkes Bein lag auf dem umgestürzten Stuhl, der Absatz des Schuhs war heruntergetreten, die Nägel waren sichtbar. Der Vater hatte keinen Kopf mehr. Die Wucht der zwölf Bleikugeln hatte sein Gesicht weggerissen und das Schädeldach abgehoben.
    Sebastian stand im Zimmer, er konnte sich nicht rühren. Er roch das Pulver, den Whisky, der aus einer umgekippten Flasche auf die Steinplatten tropfte, das Rasierwasser des Vaters. Er sah den Staub auf den Büchern, das Fernrohr aus Messing, die Risse in den Ledersesseln und das silberne Zigarettenetui mit dem großen Stein aus Jade. Dann wurde es zu viel, die Bilder rasten in seinem Kopf, sie überlagerten sich und setzten sich immer wieder neu zusammen, er konnte sie nicht mehr ordnen. Die Farben quollen zu riesigen Blasen auf.
    Sebastian blutete aus der Nase, es lief warm über die Lippen auf die Zunge. Er trat einen Schritt vor, nahm das Zigarettenetui an sich und schaltete die Schreibtischlampe aus. Er wusste nicht, warum er das tat, aber danach wurde es stiller.
    »Wir haben noch Zeit«, hatte der Vater gesagt.

5
    Er wachte in seinem Bett auf. Er wusste nicht, wie er dorthin gekommen war. Er hatte seinen Schlafanzug an. Unten hörte er die Stimme seiner Mutter. Sein Mund war trocken. Er stand auf und ging zum Fenster, es war schon Mittag. Ein Polizeiwagen stand vor dem Haus, daneben ein schwarzer Kombi mit mattierten Scheiben.
    Der Arzt der Familie kam in sein Zimmer. Er sagte, Sebastian dürfe sich nicht anstrengen, er solle sich wieder hinlegen und viel schlafen. Der Arzt gab ihm eine Tablette und ein Glas Wasser, dann zog er die Vorhänge zu. Auf den gelb-grünen Untergrund des alten Stoffes waren Papageien gestickt, prächtige Vögel mit riesigen Schnäbeln. Sebastian versuchte wach zu bleiben, aber die Vögel verschwammen vor seinen Augen und lösten sich auf. Er träumte vom Dschungel, es war heiß und feucht dort, zu viele Farben, zu viele Gerüche.
    Später waren die Fremden nicht mehr im Haus. Er hörte nur das, was schon immer hier gewesen war: das Wasser, das in den bemoosten Brunnen vor dem Haus floss, der Wetterhahn, der bei jedem Windstoß knarrte, der Marder auf dem Dachboden. Sebastian fror, er hatte den Schlafanzug durchgeschwitzt.
    Am nächsten Morgen saß seine Mutter auf der Bettkante, sie hielt seine Hand. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass sie das schon einmal getan hatte. Er habe nur schlecht geträumt, sagte sie, er habe Fieber gehabt. Sie dreht den Ring an ihrem Finger. Sebastian sah auf ihren Mund, auf die Lippen, die jetzt blass und trocken waren. Sie sagte, der Vater habe einen Unfall gehabt, ein Schuss habe sich gelöst, als er ein Gewehr gereinigt habe. Der Mund bewegte sich immer weiter, aber Sebastian hörte sie kaum noch. Es schien ihm, als würde eine Wand zwischen ihn und seine Mutter geschoben. Die Wand war wie das raue Büttenpapier, das der Vater immer ein paar Dörfer weiter in der alten Mühle am Fluss gekauft hatte. Sebastian war einmal mitgekommen und hatte zugesehen, wie es gemacht wurde. Ein Mann mit einem Sieb hatte die einzelnen Bögen aus einem Trog geschöpft, Wasser war auf Filzplatten getropft und versickert. Das Papier werde aus Baumwolllumpen hergestellt, hatte der Mann mit der blauen Schürze gesagt, sie kämen aus dem Krankenhaus.
    Sebastian wollte seiner Mutter sagen, dass der Vater noch nie Waffen in seinem Zimmer
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