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Tabu: Roman (German Edition)

Tabu: Roman (German Edition)

Titel: Tabu: Roman (German Edition)
Autoren: Ferdinand von Schirach
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hing und später in den Nachrichten und Zeitungen gezeigt wurde – es war die Frau, nach der die Polizei gesucht hatte.
    Die Frau mit dem neuen Gesicht drehte sich um und ging zu dem Schachtürken. Sie hatte ein Gewehr in der Hand. Sie schoss auf den Kopf der Maschine. Die Kamera folgte den Schrotpatronen, der Kopf zersprang in Tausende winzige Kugeln. Sie waren dunkelgrün und formierten sich zu dem Text:
    »Auf den Strömen des windabgeworfenen Lichts«
    Danach schaltete sich der Fernseher ab.
    Auf den Zuschauerbänken wurde es laut. Einige Journalisten rannten nach draußen, um ihre Redaktionen anzurufen. Die Wachtmeister öffneten die Vorhänge. Der Vorsitzende versuchte mehrmals, die Ruhe im Saal wiederherzustellen, dann sagte er einem der Wachtmeister, er solle die Namen der Störer notieren.
    Als es wieder ruhig war, stand Biegler auf. »Herr Vorsitzender, dieser Film ist übrigens gleichzeitig mit der Vorführung hier im Gericht auf alle möglichen Videoplattformen im Internet gestellt worden. Ich darf Ihnen aber noch zwei Schriftstücke übergeben. Das erste ist eine DNA -Untersuchung der Halbschwester Eschburgs. Die Untersuchung ist zweifelsfrei, sie wurde unter notarieller Aufsicht vor einem Jahr von einem medizinischen Labor in Österreich vorgenommen. Die DNA des Blutes und der Hautschuppen, die in unserem Verfahren gefunden wurden, stimmt mit der DNA der Halbschwester überein.
    Das zweite Schriftstück stammt von einer Polizeistation in Elgin in Schottland. Eschburgs Halbschwester ist auf meinen Wunsch gestern bei den Polizisten vorstellig gewesen. Sie hat sich mit ihren Dokumenten ausgewiesen. Sie geht dort in der Nähe auf ein Internat. Die Polizei hat mir gestern ein Foto von ihr übermittelt, das ich beigefügt habe. Sie ist die Frau mit den Kreuzen, die Sie in dem Video gesehen haben. Aber vor allem ist sie vollkommen lebendig.
    Ich kann es auch anders sagen, Frau Staatsanwältin, meine Damen und Herren Richter: Sie haben keine Leiche gefunden, weil es keine Leiche gibt. Die verschwundene Frau existierte nie. Sie haben Eschburg des Totschlags an einer Installation angeklagt.«
    Nach dieser Erklärung wurde es so laut, dass der Vorsitzende die Hauptverhandlung für diesen Tag unterbrechen musste. Es dauerte lange, bis die Zuschauer den Saal geräumt hatten.
    »Das war tatsächlich das Merkwürdigste, was ich jemals bei Gericht erlebt habe«, sagte Biegler, als er mit Eschburg alleine war. »Sagen Sie, dass der Polizist Sie foltern wollte, war doch Zufall, oder?«
    »Natürlich, das konnte ich nicht planen«, sagte Eschburg. »Ich wusste aber, dass Sie daraus etwas machen würden.«
    »Aber warum haben Sie das eigentlich inszeniert? Es hätte schiefgehen können«, fragte Biegler. »Wozu dieser wahnsinnige Aufwand? Für Ihre Schwester? Für die Kunst? Die Wahrheit?«
    Eschburg sah ihn an. »Tizians Augen wurden am Ende seines Lebens immer schlechter. Er malte seine letzten Bilder mit den Fingern.«
    »Was meinen Sie damit?«, fragte Biegler.
    »Er ertrug nichts mehr zwischen sich und den Bildern. Tizian malte mit sich selbst«, sagte Eschburg. Er klang erschöpft, seine Wangen waren eingefallen.
    Biegler schüttelte den Kopf. »Ich hoffe, ich verstehe es irgendwann, jetzt bin ich zu müde.« Er nahm seinen Mantel von dem Garderobenständer und zog ihn an.
    »Ich habe noch eine Frage, Herr Biegler, eine Freundin hat sie mir einmal gestellt. Nach alldem hier: Was ist Schuld?«, fragte Eschburg.
    Biegler sah zum Richtertisch. Er dachte an die vielen Prozesse, die er in diesem Saal geführt hatte, an die Mörder und Drogendealer, an die verlorenen Menschen. »Der Wachtmeister bringt Sie in Ihre Zelle«, sagte er. »Sie können Ihre Sachen dort zusammenpacken, Sofia wird Sie in einer halben Stunde am Ausgang des Gefängnisses abholen. Seien Sie nett zu ihr, sie ist wirklich eine gute Frau.«
    Als Biegler vor die Tür des Saales trat, rannten die Journalisten ihn fast um, sie schrien durcheinander. Hinter ihnen stand eine Frau in einem Hosenanzug, sie lehnte an der Wand. Biegler konnte die helle Narbe auf ihrer Stirn erkennen. Sie nickte ihm ruhig zu. Die Frau sah so aus, wie Eschburg Senja Finks immer beschrieben hatte. Biegler wollte zu ihr, aber die Journalisten ließen ihn nicht durch. Als er es endlich geschafft hatte, war sie verschwunden. Biegler zuckte mit den Schultern. »Schuld?«, dachte er, »Schuld – das ist der Mensch.«
    Zwei Wochen später wurde Sebastian von Eschburg
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