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Tabu: Roman (German Edition)

Tabu: Roman (German Edition)

Titel: Tabu: Roman (German Edition)
Autoren: Ferdinand von Schirach
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Vernehmungsmethoden‹. Klingt doch fast so gut wie ›Rettungsfolter‹, finden Sie nicht? Aber kommen wir noch einmal zurück zu unserem Beispiel. Wonach treffen Sie Ihre Entscheidung?«
    »Welche Entscheidung?«, fragte der Polizist.
    »Sie müssen sich doch entscheiden, wen Sie foltern«, sagte Biegler.
    »Das sagte ich doch schon: Das Kind ist unschuldig, der Entführer schuldig«, sagte der Polizist.
    »Sie foltern also jeden Schuldigen?«
    »Nein, natürlich nur in extremen Ausnahmen«, sagte der Polizist.
    »Stellen Sie sich vor, der Täter sagt Ihnen: Ja, ich habe das Mädchen entführt. Aber sie ist in einem hübschen Haus, sie wird mit Essen versorgt, es ist warm dort und sie hat genügend Bücher und Spiele. Was machen Sie dann? Foltern Sie?«
    »Ich … ich …«
    »Also«, sagte Biegler, »wo ziehen Sie die Grenze? Wann dürfen Sie foltern? Nur wenn ein zehnjähriges Mädchen entführt wird? Oder dürfen Sie auch foltern, wenn das Opfer ein fünfzigjähriger Obdachloser am Rande der Gesellschaft ist? Wenn der Bundespräsident entführt wird, tun Sie es. Aber wenn ein bekannter Vergewaltiger das Opfer ist, dann lieber doch nicht? Wer bestimmt in Ihrer Welt, wann gefoltert werden darf? Sie selbst? Als eine Art Richter, Staatsanwalt, Verteidiger und Vollstrecker in einer Person?«
    »Jetzt reicht es«, sagte Staatsanwältin Landau.
    »Ich verbitte mir das«, rief Biegler. »Das ist jetzt schon das zweite Mal. Wenn Sie wollen, dass mir das Gericht das Wort entzieht, stellen Sie einen Antrag. Wir sind in einer Hauptverhandlung und nicht in einer Talkshow, wo jeder mal was sagen darf. Ich habe jetzt das Fragerecht, und Sie schweigen.« Er beruhigte sich wieder und sagte leiser: »Lassen Sie uns doch bitte versuchen, den Zeugen zu verstehen.«
    »Ich lasse die Frage zu. Mich interessiert das auch«, sagte der Vorsitzende.
    Der Polizist dachte kurz nach. Dann sagte er: »Ich bin kein Jurist.«
    »Es ist alles andere als eine juristische Frage«, sagte Biegler.
    »Ich würde einen Richter fragen«, sagte der Polizist.
    »Das ist immer eine gute Antwort. Aber wieso haben Sie dann nicht in unserem Fall einen Ermittlungsrichter gefragt, ob Sie foltern dürfen?«
    »Es hätte viel zu lange gedauert«, sagte er.
    »Blödsinn. So einen Beschluss hätten Sie innerhalb von zehn Minuten bekommen«, sagte Biegler. »Ich sage Ihnen, weshalb Sie keinen Richter gefragt haben: Sie wussten, wie er entscheiden würde. Er hätte Sie aus dem Zimmer geworfen. Nein, Sie selbst wollten diese Entscheidung treffen, ganz allein, für sich. Sie wollten selbst der Richter über den Angeklagten sein.«
    Der Polizist wurde rot. Er sagte laut: »Ja? Wollte ich das? Sie sitzen hier in Ihrem warmen Gerichtssaal. Sie können es sich leisten, so fein von der Würde des Menschen zu reden. Aber wir sind da draußen. Wir sollen Ihr Leben und das Leben Ihrer Familie beschützen. Wenn es gefährlich wird, dann rufen Sie nach uns. Dann sollen wir alles tun. Aber hier besitzen Sie die Frechheit, mich mit den Nazis zu vergleichen. Denken Sie doch einmal nach: Was wäre, wenn ich das Leben der jungen Frau hätte retten können?« Er starrte Biegler mit offenem Mund an.
    »Er ist ein anständiger Mann«, dachte Biegler. »Er macht alles falsch, aber ich würde ihm meine Familie anvertrauen.« Biegler wartete. Es wurde still im Gerichtssaal, selbst der Wachtmeister hatte aufgehört, auf seinem Stuhl zu wippen. Dann sagte Biegler leise: »Ich bin Anwalt, ich beantworte keine Fragen, ich stelle sie. So sieht das unsere Prozessordnung vor. Aber ich kann eine Ausnahme machen, wenn das Gericht es erlaubt.«
    Der Vorsitzende nickte.
    »Wenn Sie die junge Frau gerettet hätten, wären Sie ein Held«, sagte Biegler.
    »Ein Held?« Der Polizist klang verunsichert.
    Biegler sprach leise weiter: »Ja, ein tragischer Held. Sie haben sich gegen unsere Rechtsordnung gestellt, gegen alles, woran ich glaube. Sie haben die Würde eines Menschen verletzt. Diese Würde kann ein Mensch nicht erwerben und er kann sie nicht verlieren. Der Mensch wird durch Ihre Folter zu einem bloßen Objekt gemacht, er dient nur noch dazu, etwas aus ihm herauszubekommen. Deshalb müssten Sie – wenn es nach mir ginge – für das, was Sie getan haben, hart bestraft werden. Ich würde Ihnen die Pension entziehen und Sie aus dem Dienst entlassen. Aber ich würde Sie bewundern, weil Sie Ihre Zukunft für das Leben der jungen Frau geopfert haben. Die Folgen für Sie müssten fürchterlich
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