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Tabu: Roman (German Edition)

Tabu: Roman (German Edition)

Titel: Tabu: Roman (German Edition)
Autoren: Ferdinand von Schirach
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Konrad Biegler tanzte.

10
    »Guten Morgen, meine Damen und Herren«, sagte der Vorsitzende. »Die Sitzung der 14. Großen Strafkammer des Landgerichts ist eröffnet. Wir setzen die Hauptverhandlung fort.« Der Vorsitzende sah nacheinander Eschburg, Biegler und Landau an.
    »Ist inzwischen etwas über die Halbschwester des Angeklagten bekannt geworden?«, fragte er.
    Staatsanwältin Landau räusperte sich: »Ich habe hier einen Bericht der Kriminalpolizei Freiburg. Nach dem Personenstandsregister war die Mutter des Angeklagten zweimal verheiratet. Aus der ersten Ehe ging nur ein Kind hervor, nämlich der Angeklagte selbst. Die zweite Ehe blieb kinderlos. Die Mutter des Angeklagten ist heute querschnittsgelähmt. Sie hatte vor vier Jahren einen Reitunfall.«
    »Also stammt die Halbschwester vom Vater des Angeklagten«, sagte der Vorsitzende.
    »Ja«, sagte Landau.
    »Und?«, fragte der Vorsitzende.
    »Wir konnten nichts ermitteln«, sagte Landau.
    »Haben Sie andere Beweise, von denen wir noch nichts wissen?«, fragte der Vorsitzende.
    Landau schüttelte den Kopf.
    »Und gibt es noch weitere Spuren, die verfolgt werden?«, fragte der Vorsitzende.
    »Nein, wir haben keine Ermittlungsansätze mehr.«
    »Herr Biegler? Von Ihnen etwas?«, fragte der Vorsitzende.
    Biegler schüttelte den Kopf.
    »Dann verkünde ich jetzt folgenden Beschluss des Schwurgerichts: Das Geständnis des Angeklagten ist nicht verwertbar.«
    Im Zuschauerraum wurde es laut. Ein Mann schrie: »Mörder.« Der Vorsitzende ließ ihn aus dem Saal entfernen. Danach las er die Begründung für den Beschluss vor. Menschlich sei das Verhalten des ermittelnden Polizeibeamten verständlich, sagte er, aber die Strafprozessordnung kenne für diesen Verstoß nur eine Folge: Das Geständnis des Angeklagten sei nicht verwertbar. Eschburg werde so gestellt, als hätte er nie eine Straftat gestanden. Es war ein langer Beschluss. Die Richter hatten ihn für das Revisionsgericht geschrieben, sie wollten ihre Entscheidung absichern. Als der Vorsitzende fertig war, sah er Eschburg an.
    »Haben Sie unseren Beschluss verstanden?«, fragte der Vorsitzende. »Wollen Sie sich noch einmal mit Ihrem Verteidiger besprechen?«
    »Ich habe alles verstanden«, sagte Eschburg.
    »Gut. Dann werden Sie nun also belehrt, dass Sie hier keine Aussage machen müssen. Ihr früheres Geständnis wird nicht verwertet. Falls Sie schweigen, kann auch dieses Schweigen nicht gegen Sie verwandt werden. Haben Sie das verstanden?«
    »Ja«, sagte Eschburg.
    Der Vorsitzende wandte sich an die Protokollführerin. »Nehmen Sie bitte auf, dass der Angeklagte qualifiziert belehrt wurde.« Er wandte sich an Biegler. »Wenn ich Sie richtig verstanden habe, möchte Ihr Mandant heute eine Erklärung abgeben.«
    Biegler nickte.
    »Bitte sehr«, sagte der Vorsitzende.
    Eschburg stand auf.
    »Sie können sitzen bleiben«, sagte der Vorsitzende.
    »Danke, ich stehe lieber.« Er richtete das Mikrofon, das vor ihm stand. Dann zog er aus der Innentasche seiner Jacke ein Blatt Papier und begann zu lesen.
    »1770 stellte Baron Wolfgang von Kempelen der österreichischen Kaiserin eine Wundermaschine vor. Eine Figur aus Holz, groß wie ein Mensch, saß vor einem Schachbrett. Unter dem Brett war ein Kasten mit Zahnrädern, Walzen, Scheiben, Zügen und Rollen. Die Holzfigur war gekleidet wie ein Türke. Gäste konnten den Schachtürken zu einer Partie herausfordern. Der Baron zog vor dem Spiel den Apparat mit einem Schlüssel auf. Dann bewegte der Schachtürke mit seinem hölzernen Arm die Figuren auf dem Schachbrett. Er gewann fast jede Partie. Der Baron zog mit ihm durch Europa. Der Schachtürke wurde berühmt, der Automat spielte gegen die größten Schachspieler seiner Zeit. Wissenschaftler versuchten seine Mechanik zu begreifen. Es gab Bücher über ihn, Denkschriften, Zeitungsartikel und Vorträge. Niemand verstand, wie er funktionierte. Auch Napoleon und Benjamin Franklin verloren gegen ihn. Edgar Allan Poe schrieb über ihn und viel später auch ein deutscher Bundespräsident. Der Automat verbrannte 1854 in einem Museum in Philadelphia.«
    Eschburg machte eine kurze Pause. Er trank einen Schluck Wasser. Die Richter und die Staatsanwältin sahen ihn an. Es war vollkommen still im Gerichtssaal. Biegler hatte sich zurückgelehnt, er hatte die Hände über dem Bauch gefaltet und die Augen geschlossen.
    »Natürlich war der Schachtürke nur ein Trick. Kein Apparat dieser Zeit hätte wirklich Schach spielen können.
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