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Tabu: Roman (German Edition)

Tabu: Roman (German Edition)

Titel: Tabu: Roman (German Edition)
Autoren: Ferdinand von Schirach
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ihre Haut in der Sonne und das Bild vom Eismeer im Zimmer seines Vaters. Er wusste nicht mehr, was noch wirklich war, und er wusste nicht, wer er werden sollte.

8
    In den nächsten Jahren im Internat saß Sebastian fast immer in der Bibliothek und las. Er war in Indien, in der Sierra Nevada oder im Dschungel, er fuhr mit Hundeschlitten und ritt auf Drachen, er fing Wale, war Seefahrer, Abenteurer und Zeitreisender. Er unterschied nicht zwischen den Geschichten und der Wirklichkeit.
    Zuerst fiel es dem Bibliothekar auf. Er sah Sebastian einige Male aufgeregt mit jemandem sprechen, obwohl der Junge alleine im Lesesaal war. Dem Bibliothekar kam es seltsam vor und er meldete es der Internatsleitung. Präfekten und Lehrer besprachen den Vorfall, Telefonate wurden mit Sebastians Mutter geführt und schließlich wurde beschlossen, die Sache untersuchen zu lassen.
    Der Pater seiner Abteilung fuhr mit Sebastian in die Hauptstadt. Er sagte, sie würden einen Arzt besuchen, der berühmt sei, ein Professor der Universität.
    Der Arzt war dick, er roch nach Erbsensuppe und er war schon sehr alt. Aber er sah nicht aus wie ein Arzt und seine Praxis sah auch nicht aus wie die Praxis eines Arztes. An den Wänden hingen afrikanische Masken und auf dem Schreibtisch lag eine Kette, die aus Knochen gemacht war. Sebastian fuhr fünfmal mit dem Pater zu dem dicken Arzt in die Stadt. Es waren schöne Ausflüge, der Pater ging mit Sebastian danach immer in ein Café und er durfte sich einen Kuchen aussuchen.
    Beim letzten Mal sagte der dicke Mann, Sebastian müsse jetzt nicht mehr kommen. Er besprach etwas mit dem Pater, was sich Sebastian merken wollte, aber die Männer benutzten Worte, die er nicht kannte. Der dicke Mann sagte: »Visuelle Halluzinationen« und viele andere schwierige Sachen.
    Draußen fragte Sebastian den Pater, was der dicke Arzt gesagt habe, er hatte ein wenig Angst, dass er krank sei. Der Pater beruhigte ihn, es sei nichts Schlimmes. Sebastian bilde sich Menschen und Dinge ein, die es nicht gebe. Kinder würden das manchmal tun, die Grenze zwischen der Wirklichkeit und den Dingen im Kopf sei noch nicht so deutlich. Mit der Zeit würde sich das »verwachsen«. Der Pater sah traurig aus, als er es sagte. Dann gingen sie wieder in das Café. Sebastian bestellte einen Marmorkuchen und der Pater bestellte ein Bier.
    Es gefiel Sebastian nicht, dass sich etwas in ihm »verwachsen« soll. Die Köchin zu Hause hatte einen schiefen Finger, der sei einfach »verwachsen«, hatte sie gesagt. Sebastian wollte keine krummen und hässlichen Sachen in seinem Kopf. Auf der Rückfahrt dachte er lange darüber nach. Er entschied, dass es nichts ausmache, wenn er sich weiter mit Odysseus, Herkules und Tom Sawyer unterhielt. Aber er durfte niemandem davon erzählen, er musste vorsichtiger werden.

9
    Nachdem Sebastians Mutter das Haus am See verkauft hatte, pachtete sie einen modernen Reiterhof in der Nähe von Freiburg. Sie wohnte dort in einem Einfamilienhaus mit dünnen Wänden und einer Doppelgarage.
    Der Stall hatte zwölf Boxen, es gab eine Reithalle und ein Dressurviereck. Ein Pferdepfleger reinigte jeden Tag Stallgasse, Sattelkammer und Innenhof. Die Mutter wurde laut, wenn sie irgendwo Spinnweben sah.
    Jeden Morgen stand sie um sechs Uhr auf, sie ritt alle zwölf Pferde bis zum Nachmittag. Von Frühjahr bis Herbst war sie an den Wochenenden auf Turnieren, einmal wurde sie deutsche Vizemeisterin im Dressurreiten. Sie lebte von dem, was das Haus am See und der Wald eingebracht hatten.
    Weil die Abstände zwischen den Ferien groß waren, sah Sebastian, wie sie sich veränderte: Kinn und Nase wurden spitzer, ihr Mund wurde schmaler, die Venen traten auf ihren Unterarmen hervor.
    Wenn Sebastian sie besuchte, wohnte er in einem kleinen Zimmer unter dem Dach, im Sommer war es dort stickig, im Winter dunkel. Wenn er nicht da war, nutzte die Mutter den Raum als Büro. Seine Sachen standen, in zwei Kisten verpackt, auf dem Speicher.
    In den Ferien fuhr er mit auf die Turniere. Die Reitplätze waren voll Schlamm, Wasser stand in den Fahrspuren der Pferdetransporter, und in den Zelten roch es nach Zwiebeln und verbranntem Fett. Im Sommer trocknete der Pferdemist auf den Wiesen, die Hitze ließ die Gesichter der Menschen rot werden, der scharfe Schweiß der Pferde stand in der Luft. Die Männer saßen auf Klappstühlen am Rand des Dressurvierecks, sie sahen ihren Frauen und Töchtern zu. Sie hatten eine eigene Sprache, sie sagten, ein Pferd
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