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Tabu: Roman (German Edition)

Tabu: Roman (German Edition)

Titel: Tabu: Roman (German Edition)
Autoren: Ferdinand von Schirach
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müsse durchs Genick gehen, sie redeten von Traversalen, fliegenden Wechseln, gestrecktem Trab. Sebastian verstand, dass die Reiterinnen süchtig nach ihren Pferden waren.
    Die Mutter sprach nur wenig mit ihm, sie war immer müde vom Reiten. Sie sagte, dass sie ihren Körper nicht mehr ertrage, die Schmerzen in den Knien und die Schmerzen im Rücken und die Schmerzen in den Händen. Ein Arzt hatte sie gewarnt: Ihre Halsnerven seien von der Dauerbelastung dünn geworden. Es sei gefährlich, weiterzureiten, sie riskiere zu viel. Sie hielt es nur eine Woche aus, dann stieg sie wieder auf die Pferde. Sie müsse reiten, sagte sie, es ginge nicht anders.
    Als Sebastian 16   Jahre alt war, stellte ihm die Mutter ihren neuen Freund vor. Er war Mitte vierzig, einen halben Kopf kleiner als sie, er hatte kurze graue Haare, dichte Augenbrauen, manikürte Fingernägel. Sie holten Sebastian vom Bahnhof ab, als er aus dem Internat kam.
    Sie würden jetzt essen gehen, sagte der neue Mann. Er fuhr zu einem Restaurant, von dem er sagte, es sei das beste, sein Chef esse auch dort. In der Karte stand, »eine ehemalige Metzgerei wurde stilsicher in ein französisches Café der Jahrhundertwende verwandelt« und sei nun »ein authentisches Stück Frankreich mitten in Freiburg«. Die Tische standen eng, zu viele Leute saßen in dem Raum, die Stühle waren unbequem. Es war sehr laut. Der neue Mann schrie, das Essen hier sei hervorragend, den Kellner begrüßte er mit Vornamen.
    Der neue Mann sah auf die Uhr und bestellte für alle. Er wisse, was hier gut sei, sagte er. Während sie auf das Essen warteten, sagte er zu Sebastian, er sei Vertreter für Gipskartonplatten, es sei ein »Riesengeschäft«. Einmal sei ein Artikel über ihn in der lokalen Boulevardzeitung erschienen, er habe damals alles dafür getan, damit sich ein schwedischer Autozulieferer in der Stadt niederließ. Der Autozulieferer habe sich später zwar anders entschieden, aber in dem Zeitungsartikel sei er »der Macher« genannt worden. So etwas bleibe hängen, sagte er. Er zog die Augenbrauen hoch und sagte das so, als wolle er sich darüber lustig machen, aber Sebastian begriff, dass er stolz darauf war. Die Mutter schwieg, sie schien die Geschichte zu kennen.
    »Alles hat seinen Preis«, sagte der Macher. »Aber wenn du deinen Arsch bewegst, ist es egal, woher du kommst.«
    Der Macher legte seine Hand auf die Oberschenkel der Mutter und starrte in ihren Ausschnitt. Der Kellner brachte eine Flasche »Clos de Beaujeu«, ohne dass jemand sie bestellt hatte. Er solle ruhig etwas trinken, sagte der Macher zu Sebastian, »zur Feier des Tages«. Sebastian fragte, ob er ein Wasser haben könne.
    Dann schrie der Macher über den Tisch zu Sebastian: »Was willst du werden?«
    Sebastian zuckte mit den Schultern. Der Macher spielte mit dem Salzstreuer. Er hatte dicke Finger, obwohl er selbst nicht dick war. Er trug eine goldene Uhr mit einem goldenen Armband, auf dem Uhrenglas war eine Lupe für das Datum. In den Mundwinkeln des Machers trocknete Speichel. Sebastian stellte sich den Mund des Machers auf dem Mund seiner Mutter vor.
    »Hast du gar keinen Plan? Du gehst auf eine so teure Schule und hast keinen Plan?«, fragte der Macher.
    Sebastian antwortete nicht.
    »Was hast du da?«, fragte der Macher. Er griff in Sebastians Mantel, der über dem Stuhl lag, und zog das Buch aus der Tasche, das Sebastian im Zug gelesen hatte.
    »Windabgeworfenes Licht« , las der Macher langsam vor. »Was soll das denn heißen?« Er lachte laut und hielt das Buch in die Höhe.
    »Es sind Gedichte«, sagte Sebastian. Er riss dem Macher das Buch aus der Hand und schmiss dabei ein Glas um. Das Tischtuch saugte sich voll und der Wein lief auf die Hose des Machers. Sebastian entschuldigte sich, er müsse an die frische Luft.
    Sebastian ging vor die Tür. An der Bushaltestelle wühlte ein Obdachloser in einer Abfalltonne. Ein sehr langer, glänzender Wagen fuhr vorbei, ohne ein Geräusch zu machen. Die Luft stand in der Straße, es roch nach Asphalt und Benzin. Eine Frau ging an ihm vorbei und schrie in ihr Handy: »Sie war halt lange Single.« Sebastian rauchte zu schnell zwei Zigaretten hintereinander. Im Internat hing über seinem Schreibtisch ein Foto der grünen Fischerhütte in Wales, in der Dylan Thomas die Gedichte geschrieben hatte. Daran dachte er jetzt.
    Als er ins Restaurant zurückkam, war die »hausgemachte Frikadelle vom Galloway«, die der Macher für ihn bestellt hatte, kalt.
    Der Macher
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