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Tabu: Roman (German Edition)

Tabu: Roman (German Edition)

Titel: Tabu: Roman (German Edition)
Autoren: Ferdinand von Schirach
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Telefonate mussten umständlich angemeldet werden. An jedem zweiten Sonntag rief Sebastian zu Hause an. Er stand dann in einer der kleinen Holzkabinen in der Eingangshalle des Klosters und der Pater an der Pforte stellte das Gespräch durch.
    An einem der Sonntage war seine Mutter am Apparat. Sebastian wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Der Vater sei krank, sagte sie, aber es sei nicht schlimm. Als Sebastian auflegte, zitterten seine Knie. Plötzlich war er überzeugt, dass nur er den Vater retten könne. Er müsste dazu alleine durch die Viamalaschlucht wandern. Sebastian hatte Angst vor der Schlucht, vor dem Dunklen dort, den engen Wegen. Auf die Klassenwanderung war er nicht mitgekommen. »Via mala« – der »schlechte Weg«: 300   Meter hohe Felswände, glatt geschliffen und kalt, Steinstufen und Brücken.
    Sebastian ging sofort los, er meldete sich nicht ab. Vor dem Internat nahm er den Bus. Erst unterwegs merkte er, dass er nur dünne Halbschuhe trug und keine Jacke mitgenommen hatte. Er war zwölf Jahre alt, er hatte Höhenangst, aber er musste es schaffen. Er ging sehr langsam. Auf den Brücken hielt er sich in der Mitte, er sah nicht in die Tiefe. Unter sich hörte er den Fluss. Er war so bleich, dass er mehrmals von Wanderern gefragt wurde, ob sie ihm helfen könnten. Nach drei Stunden hatte er es geschafft. Er fuhr zurück ins Kloster. Sie hatten ihn gesucht und natürlich verstand der Präfekt die Sache mit dem Vater nicht. Sebastian bekam eine Ohrfeige. Es machte ihm nichts: Er hatte den Vater gerettet.
    Die Schule lag fast 2000   Meter hoch, die Winter begannen früh und dauerten lange. Im Internat wurde erst spät geheizt, die hohen Räume wurden nie richtig warm und auf den langen Fluren zog es. Sebastian freute sich immer über die ersten Tage im Schnee. Die Schlitten wurden aus den Kellern geholt und am Wochenende fuhren die Kinder Ski. Morgens lag eine dünne Schicht Raureif auf den Bettdecken und im Waschsaal kamen aus den Hähnen winzige Eiskristalle.
    Jedes Jahr wurde Sebastian zu Beginn des Winters krank, er bekam eine Mittelohrentzündung und Fieber. In der Praxis des Arztes aus dem Dorf hing ein großes Schaubild von einem Ohr. Der Arzt zeigte Sebastian darauf die Haut, die Knorpel, Knochen und Nerven. Seine Haut sei vielleicht zu dünn, sagte der Arzt. Auf seinem Tisch lagen chromglänzende Instrumente, sie waren kalt und taten weh in dem kranken Ohr. Sebastian dachte an die Köchin zu Hause, die ihm die Umschläge mit fein geschnittenen Zwiebeln gegen die Schmerzen gemacht hatte. Sie hatte gesagt, von den Zwiebeln müsse man weinen, aber sie könnten auch heilen. Die Köchin hatte an seinem Bett gesessen, sie hatte von Tunesien erzählt, von den Gewürzen auf den Märkten in der Medina, von dem Wüstenluchs, der Ohren hatte, die wie Pinsel aussahen, und von der Hitze des Saharawindes, den sie Chehili nannte.
    In den dunklen Monaten im Internat, wenn die Bücher nicht mehr ausreichten, wenn Gärtnerei, Sportplätze und Bänke vom Schnee bedeckt waren, retteten Sebastian die Farben in seinem Kopf.

4
    Es war der erste Tag der großen Ferien. Sebastian hatte kaum geschlafen. Sie fuhren um vier Uhr früh ins Revier. Nachts hatte es geregnet, die Wiesen waren feucht, die Erde klebte an den Gummistiefeln und machte sie schwer. Der Vater trug die Doppelbüchse über der Schulter. Der Schaft rieb am Lodenmantel, der Stoff dort war mit den Jahren dünn geworden. Die Rosen und Goldlinien der englischen Gravuren waren kaum noch sichtbar, der Schaft war fast schwarz. Der Lodenmantel roch nach Kaninchen und Tabak. Sebastian dachte an das Gewehr, das ihm sein Vater zur Jagdprüfung versprochen hatte. Mit 17 könnte er die Prüfung machen, aber bis dahin würde es noch lange dauern.
    Er ging gerne neben seinem Vater. Jagen ist eine ernste Sache, hatte der Vater oft gesagt, und Sebastian verstand, was er meinte. Nur auf den Treibjagden war es anders. Im Hof des Jagdhauses gab es dann Kartoffelsuppe, es war laut. Oft kamen neue Gäste, »Frischlinge«, wie die Treiber sie heimlich nannten. Sie trugen neue Mäntel und hatten neue Gewehre. Man brachte die »Frischlinge« zu besonderen Plätzen, wo sie mit ihren Gewehren nichts anstellen konnten. Sie redeten immer, auch während sie auf das Wild warteten. Sie sprachen über ihre Arbeit in der Stadt oder über Politik oder über irgendetwas anderes, und Sebastian wusste, dass sie die Jagd nicht begriffen. Später wurde vor dem Jagdhaus die Strecke
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