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Super Sad True Love Story

Super Sad True Love Story

Titel: Super Sad True Love Story
Autoren: Gary Shteyngart
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ältere Weiße in riesigen Gesundheitsschuhen den Korridor entlanggeklackert. Sie hatte eine prächtige dreistufige Nase, römischer als jeder Zinken, der je einem Menschen an den Ufern des Tibers gewachsen ist, und trug die Sorte rosarote Monsterbrille, bei der ich gleich an Freundlichkeit und progressive geistige Gesundheit denken muss. Schmale Lippen bebten vom täglichen Kontakt mit dem wahren Leben, und in den Ohrläppchen hingen Silberringe, die eine Nummer zu groß waren.
    Erscheinung und Gesichtszüge erinnerten mich an Nettie Fine, eine Frau, die ich seit meinem Highschool-Abschluss nicht mehr gesehen hatte. Sie war der erste Mensch, der meine Eltern am Flughafen begrüßt hatte, nachdem sie vor vier Jahrzehnten auf der Suche nach Geld und Gott von Moskau in die Vereinigten Staaten geflogen waren. Sie war ihre junge amerikanische Mama gewesen, die Ehrenamtliche von der Synagoge, die ihnen Latkes brachte, Englischunterricht vermittelte, gebrauchte Möbel besorgte.Tatsächlich, Netties Mann hatte in Washington im Außenministerium gearbeitet. Ebenso tatsächlich hatte meine Mutter mir kurz vor meiner Abreise nach Rom erzählt, er sei inzwischen in eine gewisse europäische Hauptstadt versetzt worden   …
    «Mrs.   Fine?», fragte ich. «Sind Sie etwa Nettie Fine, Ma’am?»
    Ma’am? Ich hatte zwar als Kind gelernt, Nettie Fine zu verehren, aber in Wirklichkeit hatte ich Angst vor ihr. Sie hatte meine Familie im Nacktzustand gesehen, unübertroffen arm und schwach (meine Eltern besaßen bei ihrer Einreise in die USA zusammen nur einen Satz Unterwäsche). Dabei hatte diese Frau, dieser freundliche Vogel gemäßigter Breiten, mir immer nur bedingungslose Liebe geschenkt, eine Liebe, die in Wellen über mir zusammenschlug und mich matt und erschöpft zurückließ, da ich gegen eine Unterströmung ankämpfen musste, deren Ursprung mir nicht ganz klar war. Jetzt schlang sie die Arme um mich und schrie mich an, warum ich sie nicht längst einmal besucht hätte und wieso ich auf einmal so alt aussähe («Aber ich bin fast vierzig, Mrs.   Fine» – «Ach, Leonard, wo geht die Zeit bloß hin?»), und zeigte weitere Anzeichen fröhlicher jüdischer Hysterie.
    Wie sich herausstellte, arbeitete sie für das Außenministerium als freie Beraterin im
Welcome Back, Partner- Programm
.
    «Aber damit wir uns nicht missverstehen», betonte sie, «ich mache nur Kundenbetreuung. Ich beantworte Fragen, ich stelle keine. Das macht alles die Amerikanische Restaurationsregierung.» Dann beugte sie sich vor und sprach mit gesenkter Stimme weiter, ihr Artischockenatem streifte sacht mein Gesicht: «Ach, was ist uns bloß
widerfahren
, Lenny? Ich kriege Berichte auf den Schreibtisch, die bringenmich zum Heulen. Die Chinesen und die Europäer wollen sich von uns abkoppeln. Ich weiß nicht genau, was das bedeuten soll, aber gut kann es kaum sein, oder? Und wir werden alle Einwanderer mit schwacher Bonität deportieren. Und unsere armen Jungs werden in Venezuela
massakriert
. Diesmal, fürchte ich, kriegen wir den Kopf nicht aus der Schlinge!»
    «Ach was, das wird schon wieder, Mrs.   Fine», sagte ich. «Es gibt immer noch nur
ein
Amerika.»
    «Und dieser zwielichtige Rubenstein. Ist das zu glauben, dass er einer von uns ist?»
    «Von uns?»
    Kaum hörbares Flüstern: «Ein
Jude

    «Meine Eltern finden Rubenstein toll», erklärte ich hinsichtlich unseres herrischen, aber unglückseligen Verteidigungsministers. «Die sitzen den ganzen Tag zu Hause und gucken FoxLiberty-Prime und FoxLiberty-Ultra.»
    Mrs.   Fine zog ein angewidertes Gesicht. Sie hatte dabei geholfen, meine Eltern ins amerikanische Gesellschaftskontinuum einzuführen, hatte ihnen beigebracht, mit Mundwasser zu gurgeln und Schweißflecken auszuwaschen, doch letztendlich war sie von ihrem angeborenen sowjetjüdischen Konservatismus immer abgestoßen gewesen.
    Sie kannte mich seit meiner Geburt, als die ganze Abramov-Mischpoke in einer übervollen Gartenwohnung in Queens lebte, die heute nur noch nostalgische Gefühle weckt, aber damals ein armseliges und kümmerliches Loch gewesen sein muss. Mein Vater hatte in einem Regierungslabor draußen auf Long Island einen Hausmeisterjob, der die ersten zehn Jahre meines Lebens das Dosenfleisch auf den Tisch brachte. Zur Feier meiner Geburt wurde meine Mutter von einer bloßen Tippse zur echten Sekretärin in der Genossenschaftsbank befördert, wo sie trotz fehlenderEnglischkenntnisse tapfer schuftete, und auf einmal waren
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