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Suna

Suna

Titel: Suna
Autoren: Ziefle Pia
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verwundert schien er gewesen, dass wir, die Städter, nach den alten Methoden ein Kind bekommen hatten. Man sah jedoch rasch, dass er die üblichen Handgriffe an den Neugeborenen nicht vergessen hatte, obwohl die Frauen schon lange die beschwerliche Fahrt ins Tal zum Krankenhaus auf sich nahmen und ihre Kinder nicht mehr zu Hause entbanden.
    Auch jetzt strahlte er Ruhe und Autorität aus, trotz seiner gebückten Körperhaltung wegen der niedrigen Decken. Es kam mir vor, als hätte er da schon etwas in dir gesehen, aber ich schob dieses Gefühl auf die gerade erst hinter mir liegende Geburt und die übergroße Empfindsamkeit, die man als Mutter in so einem Moment hat.
    Als er dich zu mir zurückbrachte, legte er dich zufrieden in meinen Arm: »Eine ganz alte Seele haben wir da«, sagte er lächelnd.
    Wir zogen dir die Kleider an, die ich für dich genäht hatte, und aßen Kirschkuchen zum Mittagessen. Dein Bruder betrachtete seine winzige Schwester und legte dir vorsichtig seine kleine Hand auf den Bauch. Mit großen Augen hast du ihn angesehen. Dann hast du scheinbar mühelos den Kopf gedreht und mich ganz und gar erfasst mit deinem forschenden Blick. Deine Locken waren rabenschwarz und standen dir widerspenstig in alle Richtungen ab.
    »Hexenhaare«, hat Andrusch gleich gesagt, als er dich sah, und ich habe mir solche Worte verbeten. Nur weil der mit deiner Großmutter lebt, hätte er noch lang nicht das Recht, so zu reden. Habe ich noch dazu gesagt.
    »Wirst schon noch sehen«, hat er unbeirrt gebrummt.
    Wochenlang habe ich dich umhergetragen, mein schönes und unermüdliches Kind. Wochenlang. Damit du für ein paar Minuten wenigstens einnicken könntest – bis ich nicht mehr wusste, dass es einen Unterschied gibt zwischen Tag und Nacht, und mir im Traum ein alter Mann begegnete, den ich schon beinahe vergessen hatte.
    Er trug eine topfartige Kopfbedeckung und einen langen, bestickten Mantel. Seine Füße steckten in weichen Pantoffeln. Er lächelte mich an, und ich sah seine Freude über unsere Begegnung.
    »Ich habe dich in Berlin zurückgelassen«, sagte ich, vielleicht schärfer als nötig. »Ich bin hierher gegangen. Mit Tom. Ich habe einen Sohn bekommen und eine Tochter. Warum bist du hier?«
    Der Alte saß auf einem Teppich in einem rauchgeschwärzten Haus und sprach lange Sätze, die er früher nicht gesprochen hatte.
    Melodiöse Sätze. In einer fremden Sprache.
    »Warum?«, fragte ich.
    Er formte mit den Lippen einzelne Wörter, als würde er mich lehren wollen, sie nachzusprechen. Ich verstand ihn nicht, sosehr ich auch lauschte und mich mühte. Ich schüttelte den Kopf. Er sah mich lange an.
    Dann stand er auf und ging hinaus. An der Tür wandte er sich noch einmal um, vielleicht unentschlossen, ob er mich bitten sollte mitzukommen. Aber im Traum gelang es mir nicht, aufzustehen und ihm zu folgen.
    Nur das Rauschen von Wasserfällen konnte ich hören und einen Raubvogel, der schrie.
    Der Kinderarzt sagte, das Kind sei aber sehr klein für sein Alter, und ich sagte, das sei nicht das Problem.
    »Das Problem ist, dass meine Tochter niemals schläft.«
    Es könnte eine Hormonstörung sein, sagte der Arzt, das käme zwar selten vor, man könnte aber mal eben Blut abnehmen, um anderes auszuschließen.
    Als du anfingst, so schrill zu weinen, wie wir dich schon manchmal weinen gehört hatten, sagte der Arzt mit einem Blick auf seine Tabellen und Diagramme: Also das Wachstum, das sei beinahe zum Stillstand gekommen, das müsse man jetzt doch mehr im Auge behalten, aber keine Sorge, er vereinbare schon mal einen Termin in der Endokrinologie. Vielleicht ein paar Tage in der Klinik?
    Du hast geweint.
    Schöne Erfolge erziele man mit Hormonbehandlungen, nur leichte Behinderungen könnten bleiben, vielleicht gar keine. Wir sollten noch röntgen, meinen Sie, das Kind beruhigt sich wieder?
    Du hast dich nicht beruhigt.
    Nein, Behinderung, das sei jetzt nur so gesagt, damit alles abgedeckt ist, man nichts vergisst, nicht wahr. Aufklärung, von Anfang an. Besser jetzt als zu spät. Man könne genaugenommen auch erst in ein bis zwei Jahren exakte Diagnosen bekommen, aber trotzdem. Am besten in der kommenden Woche einen Kliniktermin machen, ich rufe gleich an, gibt es Minderwuchs in der Familie?
    »Familie?«, hörte ich mich fragen.
    »Na, die Familie«, sagte die Stimme des Arztes. »Vater, Mutter, Großeltern. Väterlicherseits. Mütterlicherseits. Eltern des Kindsvaters. Onkel, Tanten. Cousins und Cousinen ersten
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