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Suna

Suna

Titel: Suna
Autoren: Ziefle Pia
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und zweiten Grades.«
    So viele gehören dazu?
    Beim Kindsvater ist alles in Ordnung, alles bekannt, niemand zu klein.
    »Und bei Ihnen?«
    Ich weiß es nicht.
    »Warum wissen Sie das nicht?«
    »Komplizierte Geschichte«, sagte ich müde.
    Deutsche Eltern, sagte ich, ein unbekannter türkischer Vater, der nichts von mir weiß. Eine serbische Mutter, oder kroatisch, wer weiß denn das heutzutage. Slowenisch am Ende, ich muss sie mal genau danach fragen, bevor ich hier was Falsches sage vor lauter Übermüdung.
    Ich wiegte dich vorsichtig. Du wurdest leiser.
    Geht eine Schwester? Die hätte ich noch, derselbe Vater, dieselbe Mutter. (Sind wir hier auf dem Viehmarkt?)
    »Entscheidend«, sagte der Arzt, »ist besonders die Generation der Großväter.«
    Als ich die Praxis verließ, konnte ich mich nicht mehr genau an das Gespräch erinnern, aber ich lauschte dem Klang der neuen unbekannten Worte nach. »Hormon­sprech­stunde« und »Wachstumsfugen« drehten ihre Kreise in samtig gepolsterten Endlosschleifen in meinem Kopf.
    Tagsüber und in der Nacht.
    Sie ließen mich mit Sorge auf dich blicken, sie machten mir Angst, und zugleich hatte ich das Gefühl, es läge etwas hinter diesen Begriffen, als müsste ich durch sie hindurchsteigen, um zu finden, was dir wirklich fehlte.
    »Ich werde verrückt«, sagte ich zu Tom, »ich gehe morgen mit dir in deine Klinik und lege mich in ein Bett. Und du bringst mir irgendeine Tablette.«
    »Du bist nur müde«, sagte er zärtlich.
    So wird es sein, dachte ich.
    Ich bin einfach nur müde.
    So viele Nächte ohne Schlaf.
    Einhundert schon fast.
    Ich lege mich hin.
    Für eine kleine Weile.
    Abermals befand ich mich in der Hütte des Alten. Er saß an einem niedrigen kleinen Tisch und begrüßte mich. Vor ihm standen mehrere grob geschnitzte Holzfiguren, etwa so groß wie die Spanne seiner Hand.
    Er bedeutete mir, mich zu setzen, schaute mir kurz in die Augen, wählte mit raschen Bewegungen eine Figur aus, die im Vergleich zu den anderen die Größe eines Kindes hatte, und reichte sie mir.
    Sie hatte kein Gesicht, die einzelnen Gliedmaßen waren nur angedeutet.
    »Bin ich das?«, fragte ich und zeigte erst auf das kleine Holzpüppchen und dann auf mich.
    Er lächelte versonnen und nahm zwei weitere Figuren, die er auf meiner Seite des Tisches abstellte. Sie waren voneinander abgewandt, schienen jedoch zusammenzugehören.
    Er schob noch einmal zwei Figuren ganz nah zu den ersten beiden. Mit einer Handbewegung forderte er mich auf, das Kind, das ich in meinen Händen hielt, dazuzustellen. Ich wusste nicht wie.
    Vier Personen und ein Kind, wo stellt man es hin, und wer sind diese vier?
    Schließlich fand ich einen Platz, der mir so vorkam, als wäre er die Mitte zwischen allen; und als ich meine Hand zurückzog und sah, wie allein es war, spürte ich Tränen aufsteigen.
    Mit dem Finger strich der Alte nun von Figur zu Figur, von Kopf zu Kopf, von Herz zu Herz.
    »Sie gehören alle zusammen«, sagte ich leise.
    Schließlich erinnerte ich mich an den Dorfarzt und seine Worte von der alten Seele.
    Die Leute im Dorf sagen über ihn, der schaut einen nur an und kann auf diese Weise seine Diagnosen stellen. Man müsste ihm nicht einmal zeigen, wo es wehtut, der weiß schon gleich Bescheid und holt Medizin, die man in die Hand nimmt, ohne sie anzusehen. Dann drückt der einen irgendwie am Arm, um zu prüfen, ob er das richtige Mittel gewählt hat.
    So reden die Leute hinter vorgehaltener Hand, aber sie gehen trotzdem hin. Nicht nur, weil er der einzige Arzt weit und breit ist, sondern auch weil sie selbst ihre Felder nach dem Mond bestellen (es aber nicht gern zugeben) und das, was der Arzt tut, fremdvertraut ist und schließlich genauso wenig schaden kann wie das Beten am Sonntag in der Kirche. Und weil fast immer hilft, was er den Leuten mitgibt.
    Während unserer nächtlichen Rundgänge dachte ich über seine Worte nach, und je länger ich sie drehte und wendete, desto mehr verwoben sie sich mit meinen Träumen vom Alten und seinen Figuren mit dem hölzernen Herz. Ich musste den Hofer wenigstens einmal fragen, was er mit seiner Bemerkung gemeint hat.
    In Dr. Hofers Sprechzimmer hingen Zertifikate in asiatischer Schrift und orientalische Teppiche an der Wand. So sah es hier also aus. Wie in Berlin, nicht wie in einer schwäbischen Landarztpraxis. Ich lächelte und wandte mich an den, von dem ich mir Antworten erhoffte.
    »Sie schläft nicht«, sagte ich und zeigte auf dich.
    »Weint sie
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