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Suna

Suna

Titel: Suna
Autoren: Ziefle Pia
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vom Ufer an der tiefen Seite hinein. Nur Kamil nicht. Do ğ an hatte viele Male versucht, ihm Schwimmen beizubringen, aber nichts half. Er hatte ihn auf den Tisch gelegt, damit er flach lag und die Beinbewegungen üben konnte. Ohne Erfolg. Er legte ihn quer über einen Stuhl – auch das fruchtete nichts. Kamil schaffte es nicht, Arme und Beine gleichzeitig zu bewegen.
    Schließlich trug Do ğ an ihn auf den Armen zum Ufer und stieg ganz langsam hinein in den See, aber sobald Kamil nass wurde, war es vorbei. In Panik sprang er von Do ğ ans Armen, um ans sichere Ufer zu gelangen und wäre dabei beinahe ertrunken, weil er hingefallen war und sich den Kopf an einem Stein angeschlagen hatte und unter Wasser ohnmächtig wurde.
    »Am einzigen Stein im ganzen Hochland«, grölte der Onkel.
    Tante Ipek brachte ihn zu Hatice, wo er drei Tage bleiben durfte. Sie kannte sich mit Heilkräutern aus und wurde gerufen, wenn Geburten nicht vorangingen, ob bei einer Frau oder einem Schaf. Den Männern war sie unheimlich, aber es wagte niemand, offen gegen Tante Hatice zu reden, aus Angst, verflucht zu werden. »Ach was«, sagte Tante Ipek. »Wen soll Hatice schon verfluchen? Die gehen an ihrer eigenen Dummheit zugrunde.«
    Das Meer war für Kamil also aus guten Gründen kein Sehnsuchtsort.
    »Willst du denn nicht wissen, was hinter der Türkei kommt?«, fragte Do ğ an.
    »Du bist doch albern«, sagte Kamil. »Da kommt Syrien, sagt der Onkel.«
    »Nein«, sagte Do ğ an dann ernst. »Das meine ich nicht. Ich meine zum Beispiel Frankreich, Paris, den Eiffelturm. Die Universität!«
    Kamil hatte keine Ahnung, wovon sein Bruder da redete.
    Do ğ an begann, mit seinem Stock kleine Linien in den Sand zu malen. Er murmelte Namen dazu, malte Punkte hinein. »Das ist Europa«, sagte er stolz und wies auf sein Kunstwerk. Kamil verstand nichts.
    »Haben die da auch Esel?«, fragte er.
    Do ğ an stieß ihn mit der Faust an die Schulter, so dass er in den Sand fiel und die Landkarte zerstörte.
    »Du bist und bleibst ein Idiot«, sagte er. »Wenn ich Esel haben will, dann bleibe ich doch hier!«
    Kamil rappelte sich hoch, und Do ğ an fasste ihn an den Schultern, schüttelte ihn ordentlich durch und schlug dann vor, das wenige Essen, das er mitgebracht hatte, zu teilen und genau jetzt aufzuessen.
    Von da an begleitete Kamil seinen Bruder täglich, und abends saßen sie gemeinsam auf dem Felsen unter der Eiche und warteten auf die Rückkehr ihres Vaters.
    Im Herbst kamen jedoch nur eine Handvoll Esel zurück.
    Zeki war mit seiner Herde über das Hochland gewandert, hatte die meisten Tiere verkauft und sich mit einem Dutzend neuer Eselstuten auf den beschwerlichen Heimweg gemacht. Seine Geschäfte waren gut gegangen, wenn auch nicht so gut wie in den Jahren zuvor. Er wanderte viele Tage am Fluss entlang. Er war müde.
    »Die verdammte neue Landstraße überquere ich noch« wird er gedacht haben, denn er band die Esel an einem einzigen Seil zusammen, wickelte sich das Ende um den Bauch und ging auf die Straße zu.
    Über diese Straße hatte er monatelang geflucht, weil dort Busse fahren konnten und Lastwagen. Ein Dorf nach dem anderen baute sandige Pisten, um »teilhaben zu können am neuen Verkehrsprojekt«, wie es aus Ankara hieß. Zeki war nicht lang in der Schule gewesen, aber er kam im Land ­herum und hatte gute Ohren. »Würde mich nicht wundern, wenn niemand von euch Ahnung hat, was der Nutzen sein soll, außer dass ihr euer gutes Geld loswerdet für unnütze Straßen«, sagte er oft im Winter zu den anderen Männern im Dorf. »Außerdem stehlen sie mir die letzte Lebensgrundlage. Wer kauft denn noch Esel, wenn er bequemer und schneller mit einem Lastwagen fahren kann?«
    Voller Freude dachte er an seine Söhne, mit denen er den Winter verbringen würde, und an ihre Gesichter, wenn er ihnen die neue Herde zeigen könnte. Sein neues Winterhaus hatte er endlich fertiggestellt, in diesem Jahr würde er die Kinder nicht bei seinem Bruder lassen müssen.
    Er suchte sich eine Stelle, an der die Böschungen auf beiden Seiten nicht allzu steil waren. Er nahm das Führungsseil und zog seine Herde mit sich bis zur Straßenmitte.
    In diesem Moment erklang ein langgezogener Ton. Die Lastwagenfahrer hatten sich angewöhnt, vor den zahlreichen Kurven zu hupen, damit die Leute, die die Straße als Fußweg benutzten, rechtzeitig gewarnt wären und zur Seite treten konnten.
    »Ruhig«, sagte Zeki zu seinen Eseln und hielt das Seil noch fester.
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