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Suna

Suna

Titel: Suna
Autoren: Ziefle Pia
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erst mit knapp fünfundzwanzig Jahren zur Theologie gefunden hatte und nun bereits dreißig war, als er sein Vikariat antrat. Und beim ersten Zusammentreffen begrüßte er die Kinder des Pfarrers nicht mit einem Bibelvers, sondern mit einem kleinen Kunststück.
    Er sprach jedes mit Namen an, Irma, Thea und Meinrad, den erst Zwölfjährigen, den er auch im Lateinischen unterrichten sollte, und zauberte zugleich aus seiner Tasche einen kleinen Ball. Er ließ ihn über seine Hand rollen und verwandelte ihn im nächsten Moment in ein Tuch und im übernächsten – in eine weiße Maus. Eine lebendige!
    Sogar Thea, soeben aus dem Internat zurückgekehrt und mit neunzehn weit über solche Kindereien hinaus, musste anerkennend nicken.
    »Wir brauchen eine Jungfrau«, sagte Meinrad eines Tages beim Mittagessen, noch während des Suppenganges, zur gerade siebzehnjährigen Irma.
    »Eine schwebende. Kommst du mit?«
    Irma lachte. Das konnte nur eine von Albrecht befeuerte Idee sein.
    »Ich? Weißt du eigentlich, was eine Jungfrau ist?«, fragte Irma.
    »Weißt du das denn nicht?«, fragte der Junge zurück.
    Irma kicherte und suchte über die Suppenschüssel hinweg Albrechts Blick. Sie fand ihn – unerwartet offen. Sie wandte sich rasch wieder ihrer Mahlzeit zu.
    »Was hat das zu bedeuten?«, fragte die Mutter.
    »Wir üben etwas«, sagte Meinrad unbeirrt.
    »Mit Jungfrauen?«, fragte die Mutter.
    Irma sah abermals zu Albrecht hinüber.
    »Du weißt, was ich davon halte, Meinrad«, sagte die Mut­ter und fügte an Albrecht gewandt hinzu: »Können Sie dem Jungen denn nichts Brauchbares beibringen?«
    Irma wandte ihren Blick nicht von Albrecht. Der starrte nun in seinen Suppenteller und sah ganz so aus, als ob er sich nur äußerst mühsam beherrschen könnte, um nicht laut herauszulachen.
    »Herr Wackermann!«, sagte die Mutter streng über den Tisch.
    Er hob den Kopf und lächelte Irma (und nur Irma!) für eine Sekunde an, bevor er sein Gesicht hinter seiner Serviette verbarg.
    »Entschuldigen Sie bitte, Frau Pfarrer, eine Gräte«, sagte er dann und pulte sich geräuschvoll zwischen den Zähnen.
    »Wir haben Nudel suppe zu Mittag«, sagte die Mutter.
    Die Schwestern quiekten vor Lachen.
    Seit jenem Mittagessen begleitete Irma ihren Bruder re­gelmäßig zu den Lateinstunden mit Albrecht. Von schwebenden Jungfrauen war tatsächlich keine Rede mehr, stattdessen verschwanden Geldstücke, Ringe, Ketten und Halsbänder vor Irmas Augen und tauchten in zuvor mehrfach verschlossenen Kästchen wieder auf.
    »Lass doch bitte mein Lateinbuch verschwinden«, bettelte Meinrad, aber da kannte Albrecht keinen Spaß.
    »Du musst lernen und klug werden wie dein Vater«, sagte er.
    »Ich werde nicht Pfarrer«, sagte Meinrad entschieden.
    »Du könntest auch Architekt werden«, sagte Albrecht.
    »Ist das Höchste denn nicht, Gott zu studieren?«, fragte der Junge.
    »Muss man das Höchste erreichen, um glücklich zu sein?«, fragte Albrecht den Zwölfjährigen.
    Irma war fasziniert. Albrecht zerzauste mit wenigen Worten ihre Welt und gab sie ihr in einer neuen Ansicht zurück. Es war wie bei einem Kaleidoskop, das stets dieselben Teile enthält und doch jedes Mal beim Hineinsehen ein gänzlich anderes Bild zeigt.
    »Sie stellen die Ordnung auf den Kopf«, sagte die Siebzehnjährige neckend.
    »Was meinst du mit Ordnung?«, stieg Albrecht in das Spiel ein.
    »Gott hat für jeden von uns viele Wege gezeichnet, er zeigt uns durch seine Liebe, ob wir den richtigen gewählt haben«, sagte Irma mit bibelkreisgeschulter Sanftheit.
    »Wie ist es mit Eigenverantwortung, Selbstbestimmung, freiem Willen?«, versuchte er, die Jüngere zu provozieren.
    »Versuchungen«, sagte Irma ernst, »Ideen. Um uns zu prüfen, um uns stärker zu machen im Glauben.«
    »Liest du gelegentlich etwas anderes als die Bibel?«, fragte Albrecht lachend, und Irma konnte sicher sein, einem weiteren gemeinsamen Abend mit ihm entgegenzusehen.
    Statt auszugehen, setzte Albrecht sich nämlich gern mit ihr (und Meinrad) in die Bibliothek. Er las mit ihnen Shake­speare und die antiken Philosophen, und da spürte Irma ein wenig von der geistigen Freiheit, die für Thea so wichtig war.
    Sie entdeckte aber auch eine neue Art von Gefühlen, die ganz unmittelbar mit der Gegenwart von Albrecht verknüpft waren.
    »Es fühlt sich an, als wäre man bewohnt«, sagte sie zu Thea. »So weit ist es hoffentlich noch nicht«, spottete diese.
    Nur wenig später feierte Irma ihren
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