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Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Titel: Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)
Autoren: Claudia Schreiber
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hätte gern weitergefragt, aber ihre Lehrerin fragte lieber zurück. Was sie eigentlich sei, ein Mädchen oder eine streunende Katze, so
zerzaust, wie sie herumlief? Da war also schon früh klar, dass die beiden sich gern was fragten, aber ungern was antworteten.
    Wenn die Schule ein Kirschgarten gewesen wäre, so blühend hell und frisch, und dort in den Klassenräumen Lebendes hätte zwitschern und rascheln dürfen, wäre die
Ministerpräsidentin vermutlich persönlich mit einem Blumenstrauß vorbeigekommen und hätte Annie zum besten Zeugnis gratuliert. Doch die Wirklichkeit sah anders aus: Die Schule
war ein kahler, betonierter Ort, der aussah wie ein Bombenkeller und der nach Staub und sauer gewordenem Kakao roch.
    Auch fasste man sich in der Schule nicht gegenseitig an, was sie zusätzlich irritierte. Die Lehrer legten ihr nicht mal die Hand auf die Schulter, und selbst wenn es tausend Anlässe
für ein Lob gab, Zigtausende Möglichkeiten sogar, schüttelten sie einem nicht die Hände. Sie hatten ihre Gründe: Auf den Schultoiletten fehlten Klopapier, Seife und
Handtuch – und wer wollte schon ständig verkackte Hände schütteln –, zum anderen beugten die Lehrer ihrer Verhaftung vor. Sie weigerten sich, den Buben und
Mädchen beim Schwimmunterricht oder Turnen zu helfen. Für die Pädagogen war es inzwischen sicherer, die Kinder vom Reck stürzen oder in den Fluten ertrinken zu lassen, als ihnen
an womöglich falschen Körperstellen Hilfestellung zu geben und dafür verklagt zu werden.
    Nette erinnerte sich, dass ihr früher die besseren Lehrer sogar mal den Kopf gestreichelt hatten, ganz einfach aus Freude über eine gute Leistung oder weil bald Sonntag war.
    »Heute tut die ganze Welt so, als wäre eine Epidemie an Haut und Knochen ausgebrochen«, entrüstete sie sich. »Das hängt mir zum Hals heraus.« Und sie
fügte, ordentlich wütend, hinzu: »Ich werde auch nicht mehr angefasst, kein Mensch kneift mir mehr in den Hintern, nicht ein einziger Mistkerl ist hinter mir her, kein Trottel wagt
eine einzige Unverschämtheit.«
    »Tja«, warf Opa ein. »Liegts an den Männern oder dir?«
    Nette fühlte sich angegriffen, der Alte stänkerte gegen sie, wann immer es eine Gelegenheit gab.
    Annie hatte sich Lehrer ganz anders vorgestellt. Ihre Lehrerin etwa konnte weder rennen noch springen, noch singen, noch tanzen; stattdessen machte sie beim Sprechen ein störendes
Schmatzgeräusch. Annie bat sie, das zu lassen, sie könne ihr sonst nicht zuhören. Da schaute die Lehrerin, als wollte sie zubeißen, schmatzte aber weiter, bis sich weißer
Speichel in ihren Mundwinkeln sammelte und Fäden zog, wenn sie sprach. Freundlicherweise reichte Annie ihr ein Taschentuch: »Sie haben da was.« Doch diese Fürsorg lichkeit
brachte ihr den ersten Tadel ein. Außerdem litt die Kirschbauerntochter unter der schlechten Luft im Klassenzimmer, stand auf und wollte die Fenster öffnen, ohne gefragt zu
haben – zweiter Tadel. Nach wenigen Minuten nur bewegte sie ihre Arme, weil sie fürchtete, sonst leblos vom Stuhl zu fallen, wurde wieder ermahnt und musste ihre Hände und
Unterarme auf den Tisch legen, durfte eine Schulstunde lang nichts von Spucke und Geräuschen sagen. Kein Wunder, dass Annie schon früh jede Freude am Unterricht verlor und auch im Lauf
der Jahre nicht wiedergewann. Nur manchmal noch wagte ihr Übermut ein paar Sprünge. Etwa, als die Schüler von ihren Familien erzählen sollten.
    »Mein Vater ist Chinese«, meldete sie sich zu Wort.
    Die Lehrerin forschte nach, weshalb sie mit solch einem Vater keine Schlitzaugen hätte?
    »Der Chinese, übrigens ein Skilehrer«, antwortete sie ausschweifend, »war ja nur ganz kurz mein Vater, etwa fünf Minuten, dann war sein Einfluss schon wieder weg,
deshalb ist so wenig Chinesisches an mir haften geblieben.«
    Am folgenden Tag wurde Annies Mutter zum Rektor bestellt, der sich vor allem nach der Länge ihrer Beziehung zum Kindsvater erkundigte und sie fragte, wie man so etwas einer
Minderjährigen anvertrauen konnte. Nette berichtete dem Rektor daraufhin wortgewandt von fünf Jahren , da müsse ihre Tochter etwas falsch verstanden
haben. Jahre, nicht Minuten. Arizona, nicht China. Und kein Skilehrer, sondern ein wissenschaftlicher Mitarbeiter eines berühmten Astronomen. Nicht bildschön, sondern eher grobkörnig , wie Nette sich ausdrückte, als habe sie eine Fotografie vor Augen, die es natürlich nie gegeben hatte. Es regte ihre Fantasie weiter
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