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Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)

Titel: Süss wie Schattenmorellen / eBook (German Edition)
Autoren: Claudia Schreiber
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stellte den Ton noch lauter und wippte und applaudierte ebenso berauscht wie die drei dicken Russen im Film, die
Lilos Beine direkt vor Augen hatten. Galle kannte inzwischen jede Einstellung, alle Requisiten und Figuren bis ins kleinste Detail, die Dialoge Wort für Wort, sprach sie wieder und wieder mit.
Auch in seinem eigenen Leben sagte er keine eigenen Sätze oder Phrasen, er sprach kein vernünftiges Wort mit seinesgleichen, einzig seine Filmsätze ließ er hier und da
einfließen. Die Menschen im Ort waren froh, dass er sich überhaupt äußerte. Nach dem Tod seiner Eltern hatte er für lange Zeit nur herzzerreißendes Schluchzen
herausgebracht.
    Inzwischen grüßte Galle die Leute, die frühmorgens an der Bushaltestelle warteten, mit dem Filmsatz: »Mein Chauffeur ist heute Morgen nicht gekommen!«, oder
erklärte Annie, wenn er die Plantage betrat: »Danke schön, Fritz, sitzen machen!«
    Wenn jemand im Ort beerdigt wurde, half er mit, das Grab zu schaufeln und den Sarg zu tragen. Er schaute den Trauernden so arglos in die Augen, dass sie noch heftiger weinen mussten als vorher.
Und trotzdem, oder gerade deshalb, bekam er gutes Trinkgeld für seine Arbeit auf dem Friedhof. Annie hatte ihm das Leben etwas erleichtern wollen, die Leute sollten sich nicht vor seinem Blick
erschrecken, deshalb brachte sie ihm eines Tages eine Sonnenbrille mit, die der Apotheker ausgemustert hatte. Galle sah damit aus wie Kevin Costner als Bodyguard oder wie ein italienischer Killer,
allerdings fehlte ihm jede Begabung für das Verbrechen. Er war schlicht und ergreifend zu lieb, jemand, der sich alles gefallen ließ, der das Böse im Menschen nicht begriff. Er
lächelte noch, wenn sich feige Lümmel um ihn stellten und ihn hin und her schubsten.
    Galles Eltern waren auf einer Reise nach Amerika bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, es geschah über dem Meer. Der Bestatter hatte darauf bestanden, dem Angehörigen den
Anblick der sterblichen Überreste zu ersparen, doch Galle hatte es sich nicht ausreden lassen. In der Nacht vor der Beerdigung schlich er in die Kapelle und schraubte beide Särge
eigenhändig auf, um sich zu verabschieden. In dem vom Vater fand er nichts als einen schwarzen Schuh. Was im Sarg der Mutter gelegen hatte, wussten bis heute nur der Bestatter und er. Galle
hatte den Deckel nur einen Spalt angehoben und gleich wieder sinken lassen. Schon am Morgen danach war sein Blick befremdend starr. In der Dorfgemeinschaft sprach sich der Vorfall schnell herum,
die meisten waren bestürzt, nur Annies Opa nicht.
    »Er muss sich damit abfinden, dass seine Eltern von Fischen gefressen worden sind«, legte er sich die Sache auf seine Weise zurecht, »wir fressen ja auch Fische!«
    Er hatte diese Bemerkung am Frühstückstisch gemacht. Da fragte ihn Nette spitz: »Was ist dir eigentlich heilig, sag mal? Was zu heikel für einen Witz, hm?«
    Er schwieg, sichtlich betroffen, aber zu stur, das zuzugeben.
    »Mama hat recht«, meinte Annie.
    Galle sagte die Bestattung ab, weil es nichts zu bestatten gab. Eine Trauerfeier dagegen fand statt, die Gäste tranken viel und tauschten sich darüber aus, was für wunderbare
Menschen die Toten gewesen waren, der hinterbliebene Sohn hatte während der ganzen Feier erbärmlich geweint, immer den Schuh im Arm.
    »Hey, Galle, was war nun im Sarg deiner Mutter drin?«, fragten die Betrunkenen in der Nacht. »Ihre Handtasche? Die Zähne?«
    Ausgerechnet Opa sprang ein: »Haltet die Schnauze!«
    Aber Galle hatte schon nicht mehr antworten können, und auch am Tag danach fand er keine eigenen Worte, und von da an war er absonderlich geblieben.
    Erst als er mehr als ein Jahr lang jeden Tag seinen Film gesehen hatte, brachte er wieder Worte heraus. Wenn man ihn zum Beispiel fragte, wie er geschlafen hatte, bekam man zur Antwort:
»Was willst du mit Rollschuhen in Venedig anfangen? Alle Straßen sind unter Wasser.«
    Annie hatte sich an Galles geliehene Sätze gewöhnt, er konnte prima zuhören, deshalb saß sie häufig neben ihm auf der Veranda und schüttete ihm
ihr Herz aus: »Ich sag dir was, man darf das Leben nicht verpassen. Es reicht nicht, es einfach laufen zu lassen, damit meine ich: Morgens aufzuwachen darf nicht einfach nur so passieren,
sondern es muss eine Bedeutung haben. Regenwürmer verlassen ihre Gänge und krabbeln nach draußen, wenn es regnet. Aber nicht, weil sie Angst vor überfluteten Gängen haben,
sondern weil sie annehmen, dass ein Maulwurf kommt
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