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Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Titel: Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel
Autoren: Friedrich Ani
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ich eine Stunde auf dem asphaltierten Platz oberhalb des Bootsverleihs. Hier war vor einem Jahr die zehnjährige Anna Jagoda spurlos verschwunden. Von diesem Parkplatz am See oder in unmittelbarer Nähe, falls die Aufzeichnungen der Eltern und die bisherigen Untersuchungsergebnisse meiner Kollegen stimmten.
    Das Haus, in dem die Familie Jagoda wohnte, lag nicht einmal fünf Gehminuten von der Parkbank entfernt, die sich unmittelbar vor dem zur Bootshütte gehörenden Kiosk befand, wo sich Anna und ihre Freundin Esther am Samstag, den fünften Juli, um fünfzehn Uhr verabredet hatten.
    Ursprünglich wollten sie sich erst eine Stunde später treffen. Doch dann rief Esther aus dem nahe gelegenen Schwimmbad bei Anna an und meinte, sie habe keine Lust mehr, sich von blöden Jungen ärgern zu lassen. Zudem sei ihr der Wind zu kalt und sie habe Hunger . Ob Anna nicht schon um drei an den See kommen könne.
    Als habe er das Telefongespräch mit angehört, notierte Severin Jagoda später Wort für Wort von dem, was Anna seiner Erinnerung nach vor ihrem Weggehen zu ihm gesagt hatte. Auch ihre Äußerungen in den Stunden davor fanden sich in Jagodas Bericht, authentisch klingende Zeugnisse, die für den Lehrer, je länger seine Tochter verschwunden blieb, eine unzweifelhafte Wahrheit dokumentierten. Obwohl laut den Protokollen meiner Kollegen sogar Miriam Jagoda vielen Zitaten widersprach, rückte ihr Mann nicht von seiner Überzeugung ab, die Aussagen seiner Tochter enthielten Hinweise auf »das Unvorstellbare«, wie er Annas Verschwinden nannte. Mir kam es so vor, als vertraue er den geschriebenen, nacherzählten Worten mehr als den tatsächlich gesprochenen, als stellten seine Berichte eine Wirklichkeit dar, die wir Außenstehenden unfähig waren zu begreifen, zu entschlüsseln und zu ertragen, während er zumindest eine Ahnung davon entwickelte, wie das Unvorstellbare aussehen könne.
    Er drückte mir den dicken Ordner in die Hand, nachdem er ihn aufgeschlagen und kurz durchgeblättert hatte, wortlos, mit verschlossener Miene, und bedankte sich noch einmal für meine Bereitschaft, »die Dokumente«, wie er sich ausdrückte, zu lesen. Er müsse sich wieder hinlegen, sagte er, er habe die ganze Nacht kein Auge zugetan und bitte um Verständnis, dass er mir keinen Kaffee oder Tee anbieten könne. Seiner Frau gehe es, so kurz vor dem ersten Jahrestag von Annas Verschwinden, wieder sehr schlecht, sie verlasse das abgedunkelte Kinderzimmer nicht mehr, liege nur noch zusammengekauert in Annas von Puppen und Plüschtieren bedecktem Bett, unaufhörlich weinend. Auf meine Bemerkung hin, ich könne ihnen einen ausgezeichneten Psychologen empfehlen, mit dem wir vom Dezernat 11 bei ähnlichen Fällen hervorragende Erfahrungen gemacht hätten, schüttelte er nur den Kopf, blickte über die Schulter in den Flur und klopfte dann, vereinsamt lächelnd, mit der flachen Hand auf den Ordner, den ich waagrecht vor dem Bauch hielt.
    Das war heute Morgen um Viertel nach acht. Anschließend hatte ich auf dem Balkon des Schwimmbadrestaurants das fünfundsechzig Seiten umfassende Dossier durchgearbeitet, mir Notizen auf meinem kleinen karierten Spiralblock gemacht, den ich immer in der Hemdtasche bei mir trug, und danach den Rest des Vormittags am Seeufer verbracht, indem ich schaute und schwieg. In der Zeit zwischen halb eins und halb drei blieb ich in meinem Hotelzimmer, blätterte wahllos in Jagodas Archiv, legte mich angekleidet aufs Bett und fiel in einen leichten Schlaf voll wirrer Bilder und unzähliger Gesichter, Stimmen und Zeitsprünge.
    Am fünften Juli vor einem Jahr hatte Anna Jagoda um zehn Minuten vor drei Uhr nachmittags die elterliche Wohnung am Finkenweg verlassen. Obwohl es fast dreißig Grad heiß war, die Sonne vom wolkenlosen Himmel brannte und kein Wind sich regte, trug sie Jeans und einen dünnen Rollkragenpullover, dazu ein seidenes Halstuch und weiße Söckchen in den Sandalen. In der Woche davor war sie nur zwei Tage in der Schule gewesen, sie hatte Halsschmerzen und ein wenig Fieber, keinen Appetit und nur den einen Wunsch, im Bett zu bleiben und Lucy, ihr Plüschrehkitz, im Arm zu halten .
    Deshalb sagte ihre Mutter Annas Verabredung mit Esther am Donnerstag ab, doch am Samstagmorgen kam Anna unerwartet an den Frühstückstisch der Eltern, mit einem »total hochhausriesigen Hunger«, wie ihr Vater sie in seinem Bericht zitierte, und bat darum, Esther treffen zu dürfen, schließlich sei sie jetzt wieder »superfit«.
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