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Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel

Titel: Süden und der Mann im langen schwarzen Mantel
Autoren: Friedrich Ani
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hatte eine krumme Nase und etwas abstehende Ohren und einen schmalen Mund. Aber ihr Körper war für meine Hände sofort eine Heimat.
    »Tabor ist ein eigenartiger Name«, sagte sie, während wir uns mit engsten Schritten im Kreis drehten. »Sind deine Eltern von hier?«
    »Sie sind aus dem Sudetenland geflüchtet«, sagte ich.
    Sie fragte nicht weiter. Und für Worte war auch kein Platz mehr in ihrem Mund.
     
    »Stimmt das wirklich, dass ihr zur Polizei gehen wollt?«
    Sie schaute auf den See hinaus, wo Touristen in Ruderbooten ihre Bahnen zogen.
    »Vielleicht«, sagte ich.
    »Das hätt ich nie von dir gedacht.« Sie sah mich für eine Sekunde an, und der Höcker ihrer Nase glänzte im Sonnenlicht.
    »Ich muss hier weg«, sagte ich.
    »Das versteh ich«, sagte sie leise. »Aber warum so plötzlich? Wieso hast du mir nichts gesagt? Vorgestern warst du die ganze Nacht bei mir. Die ganze Nacht. Warum hast du nichts gesagt?«
    Ich schwieg.
    Im Schweigen konnte ich schon als Neunzehnjähriger erbarmungslos sein.
     
    Warum hast du nichts gesagt?
    Ich habe mich nicht getraut. Ich wollte nicht, dass du mich aus deiner Umarmung wegschickst .
    Jetzt habe ich aus Versehen an dich persönlich geschrieben.
    Das macht nichts. Ich werde nicht mehr hier sein, wenn jemand diese Zeilen, diese Blätter, diese Stapel liest. Ich geniere mich nicht dafür. Und wer weiß, wo du heute lebst. Mit Mann und Kindern. Oder allein? Vielleicht habe ich das alles nur wegen dir aufgeschrieben, und für dich, obwohl ich nicht weiß, ob du überhaupt noch lebst oder schon dort oben mit Martin tanzen musst .
    Vielleicht wollte ich nur erfahren, ob du dich noch erinnerst.
    Gleich breche ich auf. Um dreizehn Uhr einunddreißig fährt mein Zug ab.
    In den Tagen von Taging, nach der Nacht bei Sissi und dem Morgen bei Lieselotte Feininger, hätte ich zum Finkenweg 5 gehen und klingeln können. Ich habe es nicht getan. Nicht einmal bei Irmi oder Johann habe ich mich nach Bibianas Familie erkundigt. Nach dem Vater, der früher mit einem kleinen Handgerät Zigaretten drehte, auf Vorrat und eigentlich immer, wenn ich ihn am Wohnzimmertisch sitzen sah. Nach der Mutter, die als Büglerin in privaten Haushalten und Pensionen arbeitete. Nach der älteren Tochter, die Lehrerin, und der jüngeren, die Tierärztin werden wollte. Die meiste Zeit verbrachte ich in meinem Hotelzimmer und sah aus dem Fenster und dachte an Anna und ihren Mörder, den Martin Heuer einen genannt hatte. Und ich wusste nicht, dass mein bester Freund nur noch wenige Monate zu leben hatte. Und dass ich Bogdan, den Sandler, nie wiedersehen würde. Und dass ich bald trotz meiner Flugangst nach Afrika fliegen würde, ohne den Tod eines Vaters und das Verschwinden seiner Tochter verhindern zu können. Und dass ich in meinem letzten Fall eine Liebe erlösen wollte und durch mein Erlösenwollen die Liebenden vielleicht erst in die Verdammnis schickte.
    Mein Weggang, sagte Kommissariatsleiter Volker Thon bei der Verabschiedung, sei für das Dezernat 11 und speziell für die Vermisstenstelle ein Verlust .
    Als mich Hugo Baum, der Leiter der Pressestelle im Polizeipräsidium, Bierglas an Bierglas, verschwörerisch fragte, was denn der wahre Grund für mein Ausscheiden aus dem Dienst sei, erwiderte ich: »Ich habe das bezahlte Scheitern so satt.«
    Aufgebracht zog er sein Bierglas zurück. »Und so was soll ich in die Presseerklärung schreiben?«
    »Unbedingt«, sagte ich.

15
    D er Mann am Gang ist ein freiwillig arbeitslos gewordener Beamter, eine gesellschaftliche Absurdität. Er fährt mit der Bahn, Zweiter-Klasse-Abteil, und hat ein vages Ziel, eine Stadt in Deutschland. Bei einer Größe von einem Meter achtundsiebzig würde er lieber weniger als neunzig Kilo wiegen. Vermutlich wegen seiner langen Haare, der Kette mit dem blauen Amulett, der Narbe am Hals und der seltsamen, an den Seiten geschnürten Lederhose schauen ihn vor allem Kinder komisch an .
    Er schaut dann komisch zurück, aber niemand lacht. Er vermittelt den Eindruck von jemandem, der überlebensfähig ist. Wie ein unaufdringliches Parfüm verströmt er Schweigen. Auf eine Bemerkung wie die von Nikolaus Krapp, wieso er als Fahnder auf der Vermisstenstelle der Kripo gearbeitet habe, aber nicht einmal fähig gewesen sei, seinen eigenen Vater zu finden, reagiert er mit einem Nicken, das rasch endet. Er ist auf nichts stolz und bereut wenig. Manchmal trommelt er auf seine Oberschenkel, wobei er beide Handballen ruhig hält und bloß die
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