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Süden und der Luftgitarrist

Süden und der Luftgitarrist

Titel: Süden und der Luftgitarrist
Autoren: Friedrich Ani
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sagte Martin. Zum Zeitpunkt, als er mit Mildred Loos telefoniert hatte, hatte er so wenig gewusst von ihm wie wir. Und wir kannten nach wie vor nicht einmal seinen Namen.
    Als Sonja und ich ins Dezernat in der Bayerstraße zurückkehrten, beendete Martin gerade sein letztes Protokoll. Nachdem er es ausgedruckt und kopiert hatte, setzten wir uns an den runden Tisch unter dem Fenster, außer uns dreien noch Volker Thon, der Leiter der Vermisstenstelle, und Paul Weber, unser ältester Kollege. Und während Thon nach italienischem Eau de Toilette duftete und an seinem Seidenhalstuch nestelte, verströmten Sonja und ich den Geruch nach kaltem Rauch, und unsere Schuhspitzen berührten sich unter dem Tisch wie die von Kindern, die dem Augenblick eine Heimlichkeit abluchsen. Manchmal sah Weber von dem Blatt, das er las, auf und hielt den Kopf ein wenig schräg, als lausche er einem Geräusch, das niemand hören durfte.
    »So lange wir nicht mit der Mutter und dem Bruder gesprochen haben, unternehmen wir nichts«, sagte Thon.
    »Wir haben genügend andere, konkrete Fälle. Hast du im Fall Vanessa den Schulleiter erreicht, Paul?«
    »Er sagt, er ist ratlos«, sagte Weber. Nach einer Party bei Freunden war die sechzehnjährige Schülerin Vanessa Wegener nicht nach Hause gekommen, stattdessen hinterließ sie ihren Eltern einen Brief, den sie offenbar nachts in den Briefkasten geworfen hatte und in dem sie ihnen erklärte, sie brauche eine Auszeit von der »verdammten Mühle«, wie sie die Schule bezeichnete. Ihre Freunde mauerten, wie wir das in solchen Fällen gewohnt waren, und obwohl ihre Eltern vermuteten, sie verstecke sich lediglich bei einer Freundin, hatten wir Hinweise auf einen unbekannten älteren Mann, mit dem sich Vanessa nach Aussagen von zwei Mitschülerinnen, die nicht näher mit ihr befreundet waren, in den vergangenen Wochen mehrmals heimlich getroffen habe; die Mädchen hatten sie in einen weißen BMW steigen sehen.
    Dieser Fall war einer von fünf Vermissungen, die wir in der ersten Februarhälfte zu bearbeiten hatten, alle fünf betrafen Jugendliche oder junge Erwachsene und bargen unter der scheinbar harmlosen Oberfläche beunruhigende Abgründe.
    »Vielleicht machen wir uns nur was vor«, sagte Weber, warf mir einen schnellen Blick zu und legte den Kopf schief. Wie immer hatte er die Ärmel seines rotweiß karierten Hemdes hochgekrempelt, graue Haarbüschel sprossen aus seinen kräftigen Armen, und seine Ohren waren dunkelrot. Er saß zurückgelehnt, damit sein Bauch Platz hatte, ein bulliger Mann mit geschneckelten Haaren, den ich, obwohl wir nie darüber gesprochen hatten und er eine derartige Rolle auch abgelehnt hätte, von Anfang an als Lehrmeister betrachtet hatte, Lehrmeister im Zuhören, Lehrmeister in den Dingen, die nicht im Polizeiaufgabengesetz oder in den Dienstvorschriften standen. Vor kurzem war er Witwer geworden, nach siebenundzwanzig Jahren Ehe, und lange nach der Beerdigung seiner Frau Elfriede begriff ich, dass er mich wieder etwas gelehrt hatte, was ich versuchen musste zu begreifen und für mein eigenes Leben zu nutzen, etwas, das mit der vollkommenen Hingabe an den Abschied zu tun hatte.
    »Wir haben Vanessas beste Freundin Anke ins Dezernat bestellt«, sagte Sonja Feyerabend und zog ihren Fuß zurück. »Bestimmt weiß sie was über den Mann im weißen BMW.«
    »Natürlich weiß sie was«, sagte Thon.
    »Habt ihr meine Protokolle zu Ende gelesen?«, sagte Martin Heuer.
    »Auch wenn dieser Mann Luftgitarre spielt«, sagte Thon.
    »Er ist erwachsen, er muss sich bei niemandem abmelden, er kann gehen, wohin er will.«
    Worauf Thon anspielte, betraf die Grundfragen bei jeder Vermissung eines Erwachsenen: Da nach dem Grundgesetz jeder Mensch das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit hat, konnten wir niemanden, der seinen gewohnten Lebenskreis verließ, zwingen zurückzukehren, auch wenn die engsten Verwandten uns anflehten, ihnen wenigstens die Adresse zu verraten. Darüber hinaus mussten wir klären, ob für den Verschwundenen eine Gefahr für Leib und Leben bestand oder es sich möglicherweise um eine Hupfauf-Vermissung handelte, was bedeutete, der Gesuchte würde nach einem spontanen Streifzug durch die Gemeinde – aus welchen Lokalitäten und Personen diese auch bestehen mochte – innerhalb weniger Tage wieder zu Hause sein, und wir würden die Akte schneller schließen als ein Kind einmal mit dem Seil springen kann. Entscheidend jedoch war, dass jemand – ein
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