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Süden und der glückliche Winkel

Süden und der glückliche Winkel

Titel: Süden und der glückliche Winkel
Autoren: Friedrich Ani
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hat er da zum Abschied zu Ihnen gesagt?«
    »Auf Wiedersehen«, sagte Nike. Ich sagte: »Und davor?«
    »Dass er sich vielleicht wieder meldet.«
    »Und Sie waren bei allen drei Besuchen zu zweit.«
    »Ja.«
    »Es war keine andere Frau dabei?«
    »Sie meinen, seine Geliebte? Nee.« Mit einem Ruck hob sie den Kopf. »Vielleicht hat er sich im Turm von St. Peter versteckt! Da würd ihn niemand suchen. Da wären Sie jetzt nicht drauf gekommen!«
    Sie hatte Recht.
    »Den kenn ich nicht«, sagte der Mann im Kassenhäuschen neben dem Aufgang zum Turm.
    »Sehen Sie sich das Foto bitte noch mal an«, sagte ich. Als er mir das Bild zurückgab, blickte er mit dem einen Auge an mir vorbei.
    »Sie haben tausende von Touristen jeden Tag«, sagte ich.
    »So viele sinds auch wieder nicht.«
    »Könnte jemand in dem Turm unbemerkt über Nacht bleiben?«, sagte ich.
    »Ausgeschlossen.«
    »Warum?«
    »Da sind überall Gitter, Sie kommen da nirgends rein, alles abgesperrt. Außerdem wird regelmäßig kontrolliert.«
    »Von wem?«
    »Vom Wachdienst. Schauen Sie halt selber nach. Sind bloß zweiundneunzig Meter und zweihundertneunundneunzig Stufen. Oder trauen Sie sich nicht?«
    »Kann sein«, sagte ich.
    »Sie sind doch von der Polizei!«, sagte der schielende Mann. »Sie müssen sich doch was trauen!«
    »Ja«, sagte ich.
    Vier Asiaten mit mehreren Fotoapparaten kauften Eintrittskarten und lachten in den engen Eingang hinein. Ich verabschiedete mich, schlenderte noch eine Weile über den Viktualienmarkt, zwang mich, kein Bier zu trinken, und wünschte, ich würde unverhofft Martin zwischen den Besuchern des Biergartens entdecken. Umströmt von Menschen unterschiedlicher Nationen legte ich den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, die Hände hinter dem Rücken, stumm unter Stimmen, die klangen, als würde der Sommer sich selbst besingen.
    In den darauf folgenden Tagen brachte Sonja mich dazu, nicht ständig an Cölestin Korbinian zu denken, und in Zusammenarbeit mit meinem Kollegen Wieland Korn vom Landeskriminalamt gelang es mir, die beiden Auslandsvermissungen zu klären und die Männer in Italien beziehungsweise in Griechenland aufzuspüren. Was Mustafa, den Jungen, betraf, so fing sein Verschwinden an, uns ebenso zu beunruhigen wie das von Natascha und Swenja, deren Fall nach wie vor Sonja bearbeitete.
    Sie hatte die Daten mittlerweile an die »Sirene« beim BKA übermittelt, eine zentrale Sammelstelle bei Auslandsfahndungen im Rahmen des Schengener Informationssystems. Sonja hatte Hinweise erhalten, wonach die beiden Mädchen möglicherweise mit einem Bekannten, dessen Namen im INPOL-System im Zusammenhang mit Drogenhandel auftauchte, in die Türkei gereist waren, ob freiwillig oder unfreiwillig, wussten wir noch nicht.
    Nach dreizehn Tagen intensiver Ermittlungen entdeckte ich in Mustafas Zimmer, geschickt zwischen die Seiten eines dicken Atlasses geklebt, eine Skizze mit abgekürzten Straßennamen und hingekritzelten Figuren, die wie Tiere aussahen. Gemeinsam mit Paul Weber fuhr ich in den Tierpark Hellabrunn, wo wir mit Hilfe des kruden Plans auf einen leer stehenden Schuppen stießen. Auf einer Holzpritsche lag Mustafa und weinte. Er gab keinen Laut von sich, die Tränen rannen unaufhörlich über sein Gesicht, und er starrte mit großen dunklen Augen zur Decke. Auf dem Boden lagen abgekaute Äpfel, Bananenschalen und leere Pappschachteln, aus denen er Nüsse gegessen hatte.
    »Hier ist Freiheit«, sagte er.
    Vor der Hütte hielt er sich die Hand vor die Augen, so sehr blendete ihn die Sonne. Wir lieferten ihn zu Hause ab, seine Mutter schloss ihn in die Arme, und es stand mir nicht zu, diese Umarmung für ein Verlies zu halten.
    Am nächsten Tag – es war Mittwoch, der 31. Juli – verließ ich das Dezernatsgebäude in der Bayerstraße und machte mich mitten durch die Kaufingerstraße auf den Weg zum Viktualienmarkt. Ich musste dorthin. Ich kam nicht davon los. In meinem Kopf klang Mustafas Satz nach, wieder und wieder: »Hier ist Freiheit.« Und ich stellte mich, wie schon einmal, neben den Elise-Aulinger-Brunnen mit dem dreistrahligen Wasserspender, zwischen dem Metzger Schlemmermeyer und dem Bäcker Müller, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und kümmerte mich um keinen Blick.
    Ich stand nur da. Unverrückbar. Ich trug meine an den Seiten geschnürte Hose aus Ziegenleder und ein frisches weißes Hemd und schwarze Halbschuhe. Keine Jacke, keinen Hut. Ich sah in Richtung Petersplatz und nirgendwo anders hin.
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