Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Süden und der glückliche Winkel

Süden und der glückliche Winkel

Titel: Süden und der glückliche Winkel
Autoren: Friedrich Ani
Vom Netzwerk:
den Schuhen auf dem PVC. Ist nichts. Alles still. Ist alles still, als hätt jemand den Ton abgedreht. Ich sah ihn vor mir liegen und könnt mich nicht bewegen. Er lag zur Seite gedreht direkt vor meinen Sandalen, die ich anhatte, es war im Sommer, der erste August, so wie heut. Heut vor einundvierzig Jahren. Ich seh ihn da liegen, als hätt er sich weggedreht von mir, möglich wär das, er war auch ein verschlossener Mensch, sehr in sich gekehrt und kontrolliert. Wie ich. Ich dachte immer, er verbirgt was vor mir, vor meiner Mutter, vor allen anderen Leuten. Er arbeitete bei der Stadt, er war Gärtner, Stadtgärtner, er kannte jede Blume in der Stadt, das war sein Ausspruch. Ich kenn jedes Blümerl zwischen Trudering und Aubing. Nicht schlecht, oder?«
    »Ja«, sagte ich. »Nicht schlecht.«
    »Ewig übertrieben natürlich«, sagte Korbinian. »Aber ich habs ihm trotzdem geglaubt. Weil ich das schön fand, dass er mir so was anvertraut hat, so ein Wissen, so ein geheimes Wissen. Sonst hat er wenig erzählt von der Arbeit, von den Kollegen. Meine Eltern haben wenig gesprochen, wie war das bei Ihnen?«
    »Sie sprachen auch wenig«, sagte ich. »Als ich sehr klein war, dachte ich, mein Vater wäre stumm. Er hat nicht einmal geschnarcht.«
    »Darüber war Ihre Mutter bestimmt froh«, sagte Korbinian.
    »Dafür hat sie laut geschnarcht«, sagte ich. »Später dachte ich, vielleicht hatte sie Schmerzen. Vielleicht war das Schnarchen das Schreien ihres wunden Schlafs.«
    »Das wär möglich«, sagte Korbinian.
    »Wo war Ihre Mutter, als Ihr Vater starb?«
    »Briefe austragen«, sagte Korbinian. »Ich hab bei den Nachbarn geklingelt, da hat niemand geöffnet, dann bin ich durch die Kreuzstraße gelaufen und hab laut um Hilfe gerufen. Hilfe! Hilfe! Eine Nonne hat mich angehalten und sie rief dann die Polizei. Ich hab irgendwas zu ihr gesagt. Sie hat mich nach Hause begleitet. Sie hat sich über meinen Vater gebeugt und die Hand an seinen Hals gelegt. Ich hab nicht geweint. Hab ich nicht getan. Wollt ich nicht tun. Hab ich auch geschafft. Haben Sie geweint damals?«
    »Nein«, sagte ich. »Ich habe es versucht und aus irgendeinem Grund fand ich es gemein, dass ich mich anstrengen musste, um zu weinen.«
    »Auch bei der Beerdigung: keine Träne«, sagte Korbinian. »Mein Vater wurde noch auf dem alten Südlichen Friedhof beigesetzt. Sonniger Tag war das. Wie heut. Die Sonne schien bis in die Grube hinein. Einundvierzig Jahre her. Gestern. Letztes Jahrhundert. Ich steh immer noch da und schau zu, wie die Männer mit den schwarzen Hüten die Erde auf den Sarg schütten. Meine Mutter hat mich weggeführt. Sie und ihre Schwester stützten sich gegenseitig. Sie weinten. Ich werd mal auf dem Neuen Südfriedhof landen. Und Sie?«
    »Auf dem Ostfriedhof«, sagte ich.
    »Der ist auch schön«, sagte Korbinian. »Der Nachteil ist, es fahren dauernd Züge vorbei, Güterwaggons, S-Bahnen, außerdem ist viel Verkehr auf der St. Martinstraße und der anderen… die zum Rosenheimer Platz vorgeht…«
    »Regerstraße«, sagte ich.
    »Regerstraße doch nicht!«, sagte Korbinian. »Die zum Rosenheimer Platz geht!«
    »Die heißt Franziskanerstraße«, sagte ich. »Aber in dem Abschnitt beim Friedhof heißt sie Regerstraße.«
    »Sie haben Recht. Auf jeden Fall ist da viel Verkehr, und es ist laut.«
    »Auf der Kapuzinerstraße, die am Südlichen Friedhof vorbeiführt, ist es noch lauter«, sagte ich.
    »Aber der Friedhof ist zurückversetzt und hat eine hohe Mauer.«
    »So hoch ist die Mauer auch wieder nicht«, sagte ich. Danach schwiegen wir lange, blickten durch das leere Lokal mit der dunklen Holzverkleidung, tranken und bestellten eine weitere Halbe Helles, prosteten uns wortlos zu, und die Zeit verging ohne uns.
    Seit ich Korbinian auf dem Turm von St. Peter geweckt hatte, war ich nicht mehr zu Hause gewesen und heute den ganzen Tag über nicht im Dezernat, ich hatte nicht einmal dort angerufen.
    Ich hatte es vergessen.
    Wo wir gewesen waren, wusste ich nicht mehr. Wir waren unterwegs. Leute hätten uns sehen können, sie hatten die Chance, uns zu identifizieren, ihn, den Gesuchten, den Zeitungsbekannten. Niemand erkannte ihn. Wir blieben, daran erinnerte ich mich vage – aber es war wie eine geliehene Erinnerung – in der Nähe des Doms, des Rathauses, der Dienerstraße, der Eisenmannstraße, des Altheimer Ecks, der Gegend um die Neuhauserstraße, bis wir schließlich vor der »Hundskugel« in der Hackenstraße standen und, ohne uns zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher