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Süden und der glückliche Winkel

Süden und der glückliche Winkel

Titel: Süden und der glückliche Winkel
Autoren: Friedrich Ani
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noch als Hupfaufsache rausstellen« , sagte Thon.
    »Unwahrscheinlich«, sagte ich.
    »Warum?«
    »Passt nicht zu dem Mann.«
    Als Hupfaufvermissung bezeichneten wir Fälle, in denen ein Verschwundener ungefähr so schnell wieder zurückkam, wie ein Kind einmal mit dem Seil springen kann.
    »Habt ihr mit der Frau schon über die Impotenz gesprochen?«, sagte Paul Weber, unserer ältester Kollege, ein bulliger Mann mit breitem Gesicht, buschigen Augenbrauen und Ohren, die meist aus Gründen, die er selbst nicht verstand, dunkelrot anliefen. Zu Beginn meiner Zeit auf der Vermisstenstelle war er es gewesen, der mich mit den Details vertraut gemacht und sich anders als die anderen Kollegen an meinem Schweigen nie gestört hatte. Nach wenigen Wochen erzählte er mir von seiner Frau, die er kennen gelernt hatte, als er noch bei der Streife arbeitete und sie ihn nach dem Weg fragte, und ich erzählte ihm von meinen Versuchen, einer Frau ein naher Mann zu sein, und meinem ständigen Scheitern daran. Fürs Alleinsein, sagte er damals, müsse man sich nicht schämen. Aber bis heute leugne ich nicht, dass mir das Glück, das er mit seiner Elfriede teilte, in den Nächten tiefster Weltabwesenheit wie eine lichte Quelle erschien, aus der ich vielleicht, falls ich mich traute, Zuversicht schöpfen konnte, um meine Einsamkeit, die ich zu oft als Wunde empfand, ertragen zu lernen.
    »Nein«, sagte ich. »Ich möchte zuerst mit seinem Arzt reden.«
    »Und die Dauerläufer?«, fragte Thon.
    »Keine Spur«, sagte Sonja Feyerabend, die Sachbearbeiterin für die Vermissungen von Natascha und Swenja, zweier Fünfzehnjähriger, die in den vergangenen achtzehn Monaten sechsmal von zu Hause weggelaufen waren. Einmal landeten sie – wie die meisten Ausreißer – in Berlin, wo Streetworker sie entdeckten und unseren Kollegen übergaben, die übrigen Male streunten sie durch München, nächtigten mit Freunden, die deutlich älter waren als sie, im Freien oder in heruntergekommenen Wohngemeinschaften, und wenn sie erwischt wurden, versuchten sie nicht zu türmen. Sie wussten, es würde nicht lange dauern und sie wären wieder auf Tour. Jegliche Bemühungen der geduldigen Eltern, eines Lehrerehepaars und eines Psychologen und einer Musikerin, so offen wie möglich die familiären Probleme anzusprechen, scheiterten an der abgrundtiefen Offenheit der Mädchen. Munter redeten sie mit, hörten sich Vorschläge und Kritik an, versprachen darüber nachzudenken und sich wieder verstärkt um die Schule zu kümmern, vergossen sogar ein paar Tränen des Bedauerns, und einen Monat später riefen ihre Eltern wieder im Dezernat 11 an.
    »Gehen wir in den Biergarten?«, fragte Sonja nach der Besprechung Martin und mich.
    Ich sagte: »Wir können Paul mitnehmen.«
    Weber lehnte ab, er sagte, bei ihm zu Hause sei es kühl, er vertrage die schwüle Hitze nicht mehr, außerdem müsse er dringend Sachen für die Altkleidersammlung heraussuchen. Vor allem aber, vermutete ich, wollte er nach siebenundzwanzig Ehejahren den maßlosen Verhau an Leere ordnen, den Elfriede bei ihrem Tod vor wenigen Wochen zurückgelassen hatte.
    »Er war der erste Patient, der nicht darunter zu leiden schien«, sagte Dr. Nikolaus Rath am nächsten Tag. Wir standen beide in der Nähe des weit geöffneten Fensters, Rath trank schwarzen Kaffee. Von draußen kam nicht der kleinste Windhauch herein, und obwohl der Hinterhof, auf den das Fenster hinausging, von dichtem Laub verschattet war, wirkte die Luft klebrig.
    »Was sind die Ursachen seiner Impotenz?«, sagte ich.
    »Offenbar keine körperlichen«, sagte Rath. »Seine Prostata ist in Ordnung, er trinkt nicht, er ist nicht tablettensüchtig, Diabetes hat er auch nicht. Ich hab ihn lange befragt, er sagt, ihm fehlt nichts, außer dass er eben keine Lust verspürt.«
    »Seit wann?«
    »Seit etwa einem Jahr. Sie brauchen nicht zu fragen, was da passiert ist. Herr Korbinian hat mir keine Antwort darauf gegeben. Er meinte, es gebe durchaus Momente, in denen er erregt sei, leicht, aber deutlich spürbar, ich fragte ihn, welche Momente das seien, er sagte, ganz allgemeine Momente.«
    »Was sind allgemeine Momente?«, sagte ich.
    »Tja.« Rath trank, stöhnte leise und stellte die Tasse aufs Fensterbrett. »Er wollte nicht darüber sprechen. Absolut nicht.«
    »Wie sind Sie überhaupt darauf gekommen?«, sagte ich.
    »Ich fragte ihn nach dem Sexleben mit seiner Frau.«
    »Warum?«
    »Bitte?«
    »Warum haben Sie ihn nach dem Sexleben mit seiner
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