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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen
Autoren: Ken Follett
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Party, um zur Arbeit zu gehen. »Wo ist denn deine Tracht?«, fragte ihre Schwiegermutter, als Maud sich verabschiedete. Sie glaubte, Maud wäre Nachtschwester bei einem reichen alten Herrn.
    »Ich lasse sie immer dort und ziehe mich um, wenn ich angekommen bin«, erwiderte Maud. Tatsächlich spielte sie in einem Nachtclub namens »Nachtleben« Klavier. In einer Hinsicht allerdings sagte sie die Wahrheit: Ihre »Tracht« bewahrte sie tatsächlich am Arbeitsplatz auf.
    Sie musste Geld hinzuverdienen, und sie hatte nie etwas anderes gelernt, als sich schick zu kleiden und auf Partys zu gehen. Ihr Vater hatte ihr ein kleines Erbe hinterlassen, das sie dummerweise in Mark umgetauscht hatte, als sie nach Deutschland gegangen war. Heute war es wertlos. Fitz weigerte sich, ihr Geld zu geben; er war noch immer verärgert, dass sie ohne seine Einwilligung geheiratet hatte. Walters Gehalt im Auswärtigen Amt wurde zwar jeden Monat erhöht, doch die Erhöhung hielt niemals Schritt mit der Inflation. Zum Ausgleich war die Miete, die sie für ihr Haus zu zahlen hatten, nicht mehr der Rede wert, und der Hauswirt machte sich gar nicht erst die Mühe, sie abzuholen. Aber Nahrungsmittel kaufen mussten sie trotzdem.
    Maud kam um halb zehn in den Club. Das Nachtlokal war neu eingerichtet und dekoriert und sah selbst dann noch schick aus, wenn das Licht brannte. Die Kellner polierten Gläser, der Barkeeper hackte Eis, und ein Blinder stimmte das Klavier. Maud zog ein tief ausgeschnittenes Abendkleid an, behängte sich mit falschem Schmuck und schminkte ihr Gesicht dick mit Puder, Lidschatten und Lippenstift. Als um zweiundzwanzig Uhr geöffnet wurde, saß sie am Klavier.
    Rasch füllte der Club sich mit Männern und Frauen in Abendgarderobe, die tanzten und rauchten. Sie bestellten Champagnercocktails und schnupften diskret Kokain. Armut und Inflation zum Trotz gab es in Berlin ein reges Nachtleben, und die Gäste, die in den Club kamen, kannten keine finanziellen Probleme. Entweder besaßen sie Einkommen aus dem Ausland, oder sie hatten etwas Besseres als Geld: Kohlevorräte, ein Schlachthaus, ein Tabaklager oder das Beste von allem: Gold.
    Maud gehörte einer Frauenband an, die die neue Musik namens Jazz spielte. Fitz wäre entsetzt gewesen, sie so zu sehen, aber sie mochte ihren Job. Von jeher hatte sie gegen die Regeln ihrer Erziehung rebelliert. Jeden Abend die gleichen Melodien zu spielen konnte zwar ermüdend sein; dennoch setzte Maud irgendetwas dabei frei, das in ihr unterdrückt gewesen war. Sie wand sich verführerisch auf dem Klavierhocker und klimperte vor den Gästen mit den Wimpern.
    Gegen Mitternacht hatte sie einen Soloauftritt, bei dem sie Lieder vortrug, die schwarze Sängerinnen wie Alberta Hunter populär gemacht hatten. Maud lernte die Songs von amerikanischen Schallplatten, die sie auf dem Grammofon abspielte, das dem Besitzer des »Nachtleben« gehörte. Sie wurde als »Mississippi Maud« angekündigt.
    Zwischen den Liedern kam ein Gast ans Klavier und bat: »Würden Sie bitte ›Downhearted Blues‹ spielen?«
    Maud kannte das Lied, ein großer Hit von Bessie Smith. Sie begann, Bluesakkorde in e-Moll zu spielen. »Vielleicht«, entgegnete sie dem Gast. »Was ist es Ihnen wert?«
    Er hielt ihr einen Einmilliardemarkschein hin.
    Maud lachte. »Dafür gibt’s nicht mal den ersten Takt«, sagte sie. »Haben Sie kein ausländisches Geld?«
    Er reichte ihr eine Dollarnote.
    Sie nahm den Schein, stopfte ihn sich in den Ärmel und spielte »Downhearted Blues« .
    Maud war überglücklich, den Dollar ergattert zu haben, der ungefähr eine Billion Mark wert war. Dennoch fühlte sie sich ein wenig niedergeschlagen, und der melancholische Blues verstärkte ihre gedrückte Stimmung. Für eine Frau ihrer Herkunft war es durchaus eine Leistung, gelernt zu haben, wie man aus den Gästen eines Nachtclubs ein Trinkgeld herauskitzelte, aber sie empfand es dennoch als entwürdigend.
    Nach ihrem Solo sprach der gleiche Gast sie auf dem Weg zu ihrer Garderobe an. Er legte die Hand auf ihre Hüfte und fragte: »Möchtest du gerne mit mir frühstücken, Süße?«
    Maud wurde in den meisten Nächten betatscht, obwohl sie mit dreiunddreißig zu den älteren Frauen im Club gehörte; die meisten waren erst neunzehn oder zwanzig. Wenn so etwas geschah, war es den Angestellten verboten, irgendwelches Aufsehen zu veranstalten. Sie sollten süß lächeln, die Hand des Mannes sanft wegschieben und sagen: »Nicht heute, mein Herr.« Das
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