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Sturz der Titanen

Titel: Sturz der Titanen
Autoren: Ken Follett
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Kleidern und mit verbundenen Augen. Eine rote Flagge wehte über ihren Köpfen.
    Während Grigori zusah, hoben die Soldaten ihre Gewehre.
    Grigori brüllte: »Aufhören! Nicht schießen!« Doch seine Stimme wurde durch das geschlossene Fenster gedämpft, und niemand hörte ihn.
    Einen Augenblick später krachten die Schüsse.
    Die Verurteilten stürzten zu Boden. Grigori starrte entsetzt in den Hof hinunter.
    Um die Leichen der Gefallenen herum sickerte Blut in den Schnee, so leuchtend rot wie die Fahne, die über ihren Köpfen wehte.

Kapitel 41
    11. und 12. November 1923
    Maud schlief tagsüber und stand am späten Sonntagnachmittag auf, als Walter mit den Kindern von einem Spaziergang nach Hause kam. Erich war drei und Heike war zwei, und sie sahen in ihren besten Kleidern so niedlich aus, dass Maud glaubte, ihr Herz würde überquellen vor Mutterliebe.
    Ein solches Gefühl hatte sie früher nie gekannt. Selbst ihre wilde Leidenschaft für Walter war nicht so überwältigend gewesen. Zugleich bereiteten die Kinder ihr schreckliche Sorgen. Könnte sie sie ernähren und warm halten und vor Aufstand und Revolution schützen?
    Sie gab ihnen Milchsuppe mit Brotkrumen; dann bereitete sie den Abend vor. Sie und Walter richteten eine kleine Familienfeier aus, um den achtunddreißigsten Geburtstag von Walters Cousin Robert zu feiern.
    Robert war nicht im Krieg gefallen, sondern in einem sibirischen Kriegsgefangenenlager festgehalten worden. Als die Bolschewisten mit Österreich Frieden schlossen, waren Robert und ein Kriegskamerad namens Jörg freigelassen worden und durften zusehen, wie sie in die Heimat kamen – zu Fuß, auf Fuhrwerken und auf Güterzügen. Ein Jahr lang waren sie unterwegs gewesen, aber sie hatten es geschafft. Nach ihrer Heimkehr hatte Walter ihnen eine Wohnung in Berlin vermittelt.
    Maud band sich die Schürze um. In der winzigen Küche ihres kleinen Hauses kochte sie Suppe aus Kohl, altbackenem Brot und Rüben. Sie buk auch einen kleinen Kuchen, aber die Zutaten musste sie ebenfalls mit Rüben strecken.
    Sie hatte das Kochen gelernt und noch viele andere Dinge. Eine freundliche ältere Nachbarin hatte sich der verarmten Adligen angenommen und ihr gezeigt, wie man Betten machte, Hemden bügelte und die Badewanne schrubbte. Für Maud war das alles ein kleiner Schock gewesen.
    Sie wohnten in einem typischen Haus der Mittelschicht. Sie hatten kein Geld hineinstecken können, und sie konnten sich auch nicht die Dienstboten leisten, an die Maud stets gewöhnt gewesen war. Viele ihrer Möbel waren aus zweiter Hand, und Maud fand sie insgeheim schrecklich spießig.
    Sie hatten auf bessere Zeiten gehofft, doch es war alles nur schlimmer geworden: Walters Karriere im Auswärtigen Amt war durch seine Ehe mit einer Engländerin in eine Sackgasse geraten; er hätte sich etwas anderes gesucht, doch in dieser schweren Wirtschaftskrise konnte er froh sein, überhaupt eine Anstellung zu haben. Maud erschien ihre anfängliche Unzufriedenheit nach vier Jahren, die sie nun in Deutschland verbracht hatte, dumm und engstirnig. Die Polster waren geflickt, wo die Kinder sie zerrissen hatten, zerbrochene Fensterscheiben waren mit Pappe provisorisch geflickt, und an vielen Stellen blätterte die Farbe ab.
    Doch Maud bereute nichts. Sie konnte Walter küssen, wann immer sie wollte, ihm die Zunge in den Mund schieben, seine Hose aufknöpfen und sich von ihm auf dem Bett, auf der Couch oder sogar auf dem Fußboden lieben lassen, und das entschädigte sie für alles.
    Als Walters Eltern kamen, brachten sie einen halben Schinken und zwei Flaschen Wein mit. Otto von Ulrich hatte das Familiengut Zumwald verloren; es lag jetzt nicht mehr auf deutschem Gebiet, sondern in Polen. Seine Ersparnisse waren von der Inflation vernichtet worden. Doch im großen Garten seines Berliner Hauses baute er Kartoffeln an, und aus der Zeit vor dem Krieg besaß er noch immer einen gewaltigen Vorrat an Wein.
    »Woher hast du den Schinken?«, fragte Walter ungläubig. Solche Leckerbissen waren normalerweise nur gegen harte amerikanische Dollar zu bekommen.
    »Ich habe ihn gegen eine Flasche alten Champagner getauscht«, antwortete Otto.
    Die Großeltern brachten die Kinder ins Bett. Ihr Opa erzählte ihnen ein Märchen. Soweit Maud es mitbekam, ging es um eine grausame Königin, die ihren Bruder enthaupten ließ. Ihr schauderte, aber sie mischte sich nicht ein. Danach sang Susanne von Ulrich mit quäkender Stimme ein Wiegenlied, und die Kinder schliefen
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