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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit
Autoren: Link Charlotte
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packte zum zweitenmal ihre Koffer und reiste nach Wien, um Nachforschungen über ihren Enkel anzustellen. Was sie herausbekam, war niederschmetternd: Elsas Sohn war in einem Waisenhaus während einer Keuchhustenepidemie gestorben. Elsa weinte nicht, als sie es erfuhr. Sie stand mühsam auf, trank ein paar Schlucke Milch und aß etwas Brot. Vier Tage lang sprach sie kein Wort, aber sie aß und aß, solange bis sie etwas von ihren alten Kräften wiedergefunden hatte. Dann verließ sie Lulinn, mit zwei Reisetaschen und der festen Absicht, nie wieder dorthin zurückzukehren. Zwei Jahre lang hörte die Familie nichts von ihr. Dann stand sie eines Tages vor der Tür; mit ihrem Mann, dem jungen Berliner Arzt Dr. Rudolf Degnelly, und ihrem kleinen Sohn Johannes auf dem Arm. Sie war viel älter geworden, ihr Gesicht trug den melancholischen Ausdruck, den es nie wieder verlieren sollte, wenigstens aber schien sie nicht mehr so todessehnsüchtig wie einst.
    »Weiß dein Mann, was geschehen ist?« fragte Laetitia. Elsa nickte. »Er weiß alles. Aber sonst soll es nie jemanderfahren. Auch nicht meine Kinder.«
    Elsa kam von da an jedes Jahr nach Ostpreußen, in den Sommermonaten, in denen sich auch ihre Geschwister dort trafen. Sie schien diese Aufenthalte nicht zu genießen, hielt aber eisern an ihnen fest.
    »Ihre Wurzeln sind hier«, sagte Ferdinand, »das kann sie nicht vergessen.«
    Er hatte damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Laetitia, die beobachtete, wie sich Elsa mit einer trotzigen Sehnsucht ihrer Schwermut hingab, begriff, daß auch böse Erinnerungen einen Menschen an einen Ort fesseln können.
    Heute, an diesem Abend, war es das erste Mal seither, daß Elsa weinte. Ihr krampfhaftes Schluchzen dauerte jedoch nur einige Minuten. Dann richtete sie sich kerzengerade auf, ergriff Laetitias Taschentuch und trocknete sich energisch die Augen.
    »Entschuldige bitte«, sagte sie, »es wird nicht wieder vorkommen.« Ferdinand sah sie erleichtert an. Mit weinenden Frauen wußte er nichts anzufangen. Ihm war klar, daß er einen Fehler gemacht hatte, aber solange er lebte, hatte er sich für nichts entschuldigt, und er tat es auch jetzt nicht. Eine ungemütliche Stille senkte sich über den Raum, doch dann wurde plötzlich die Tür aufgerissen, und von einem Augenblick zum anderen hallten die Wände wider von einem Dutzend lebhaft durcheinander schwirrender Stimmen. Victor stolzierte wie ein Gockel herein, gefolgt von seiner sauertöpfischen vierzehnjährigen Tochter Modeste und der grämlich dreinblickenden Gertrud, die sich unpassenderweise in weiße Spitze gehüllt hatte und wie eine überalterte Braut aussah. Belle sang ein zweideutiges Liebeslied vor sich hin, was allseits ein leichtes Stirnrunzeln hervorrief, und ihre Tochter Nicola hielt einen großen leuchtend bunten Wiesenblumenstrauß in den Händen, den sie mit einer anmutigen Bewegung Laetitia in dieArme warf, ehe sie ihrem Großvater auf den Schoß kletterte und ihn auf die Nase küßte. Leo, im maßgeschneiderten Anzug mit elfenbeinfarbenem Seidenhemd (beides bestimmt noch nicht bezahlt, dachte Elsa) schwenkte einen Umschlag. »Ein Telegramm aus Berlin!« rief er. «Für die holde Elsa!«
    »Von Rudolf?«
    Leo schüttelte den Kopf. »Nein. Von einem anderen Mann. Elsa, wie viele Eisen hast du eigentlich im Feuer?«
    Laetitia und Belle lachten, Gertrud wurde rot. »Es ist geschmacklos und unverschämt«, zischte sie Victor zu. Elsa ergriff das Telegramm. »Von Johannes. Was kann er wollen?«
    Jadzia trat ein, in jeder Hand einen großen Krug mit eiskalter Buttermilch. Sie zündete die Kerzen auf dem Tisch an, brachte frisches Brot und eine Schüssel mit Quark. Alle setzten sich. Eine friedvolle Stimmung breitete sich aus, während draußen die Sonne hinter den Hügeln versank: Der einzige, der hin und wieder poltern mußte, war Ferdinand. »Christian und Jorias fehlen. Und Felicia auch. Sie kriegen nichts mehr, wenn sie so unpünktlich kommen.«
    Niemand nahm ihn ernst. Zumindest Felicia, das wußten alle, könnte mitten in der Nacht erscheinen, sie würde von Ferdinand noch immer mit offenen Armen empfangen. Sie glich Laetitia in ihrer Jugend so völlig, daß Ferdinand noch einmal die gleichen feurigen Gefühle empfand wie ein halbes Jahrhundert zuvor.
    »Was schreibt denn Johannes?« erkundigte sich Laetitia. Elsa legte das Telegramm nachdenklich neben ihren Teller. »Er will seine Linda noch in diesem Monat heiraten.«
    »Linda?« fragte Ferdinand
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