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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit
Autoren: Link Charlotte
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Manuel und hoffte zu sterben. Sie brachte ihr Kind, einen Sohn, beinahe vier Wochen vor dem errechneten Termin zur Welt, in einem Krankenhaus, das den prosaischen Namen Landesgebäranstalt trug und adeligen, ledigen jungen Damen die Gelegenheit gab, »unter der Maske«zu entbinden, was bedeutete, ihr Kind zu gebären, ohne dem Arzt oder einer der Schwestern Namen, Alter oder irgend etwas über die eigene Herkunft sagen zu müssen. Es schockierte Elsa, als sie bei ihrer Entlassung ein Papier unterschrieb, auf dem sie lediglich als »Nummer 33 des Jahres 1885« aufgeführt war. Sie ging ohne ihren Sohn zu Laetitias Freundin zurück, weil der Arzt ihr gesagt hatte, das Kind sei kränklich und müsse noch einige Wochen in seiner Obhut bleiben. Laetitia sagte, sie könnten die großzügige Gastfreundschaft nicht länger in Anspruch nehmen und müßten nach Insterburg zurückfahren.
    »Aber ich kann nicht ohne mein Kind gehen«, widersprach Elsa.
    Laetitia überlegte. »Der Kleine muß noch wochenlang hierbleiben. Ich weiß etwas, Liebes. Wir beide fahren heim, und wir laden unsere liebe Gastgeberin ein, in etwa fünf oder sechs Wochen nachzukommen. Wir können uns für ihre Güte revanchieren, und sie kann bei dieser Gelegenheit gleich deinen Sohn mitbringen. Bis dahin kann er sich erholen.«
    Elsa, vom Kummer um Manuel und durch die langeGefangenschaft zermürbt, willigte ein. Sie reiste mit ihrer Mutter zurück nach Ostpreußen, brach beim Anblick von Lulinn wegen zahlloser Erinnerungen an einen vergangenen Sommer in Tränen aus, zog sich in die Einsamkeit ihres kleinen, freundlichen Zimmers zurück und wartete auf ihr Kind. Die Wochen vergingen, sie hörte weder etwas von der Freundin noch von dem Kind.
    Schließlich konnte Laetitia Elsa nicht mehr vertrösten. Von der Tochter in die Enge getrieben, gab sie zu, was der eigentliche Sinn der Landesgebäranstalt für ledige Mütter war: Nicht nur, daß die Damen dort unerkannt und im geheimen entbinden konnten, die Last um das unerwünschte Neugeborene wurde ihnen gleich ganz und gar abgenommen, indem die Stadt Wien die Säuglinge für ein reichliches Geld, das die Familie der Mutter zu zahlen hatte, übernahm.
    Elsa begriff nicht sofort: »Was?« fragte sie ungläubig. Laetitia nickte begütigend. »Die Stadt sorgt für das Kind. Du brauchst dich um nichts mehr zu kümmern.«
    »Die Stadt? Was heißt das, die Stadt?«
    »Es gibt dort Pflegestellen, die...«
    »Pflegestellen? Du meinst Waisenhäuser? Mutter, wie konntest du...«
    »Deinem Kind geht es gut, Elsa, da kannst du beruhigt sein. Dein Vater hat viel Geld bezahlt, damit es...«
    Elsa sah ihre Mutter fassungslos an. »Du hast mein Kind verkauft... an eine Stadt! Du hast...«
    Laetitia vernahm den schrillen Ton in Elsas Stimme. Gleich würde sie anfangen zu schreien. Sie stand auf und schloß das Fenster. »Nicht verkauft, Elsa. Wir haben es in Pflege gegeben und viel Geld bezahlt, damit es in gesicherten Verhältnissen aufwächst. Viele junge Frauen in deiner Lage tun das.«
    Vor Elsas Augen flimmerte es. »Das kann nicht wahr sein«, flüsterte sie, »das tust du nicht. So etwas kannst du nicht tun!«
    »Ich habe es für dich getan. Damit du frei bist. Lieber Himmel, Elsa, ich habe die Moralisten nicht erfunden, aber es gibt sie, und wir müssen uns mit ihnen arrangieren. Du bist zu jung, um für einen unbedachten Schritt ein Leben lang bezahlen zu müssen. Jetzt steht dir wieder alles offen. Du kannst heiraten, und du wirst wieder Kinder haben.«
    Elsa, die mit glasigen Augen, ohne etwas zu verstehen, gelauscht hatte, öffnete den Mund zum Schrei. Laetitia kam ihr zuvor.
    »Die Angelegenheit ist vorüber«, sagte sie scharf, »vergißManuel und vergiß das Kind. Es kommt eine Zeit, da bist du mir dankbar!«
    Elsa dachte nicht daran, dankbar zu sein. Sie weigerte sich, ihr Zimmer zu verlassen, hörte auf zu essen und blieb schließlich nur noch im Bett. Ferdinand ließ die schönsten Delikatessen aus Königsberg kommen, aber selbst die verschmähte sie. Ihre Geschwister, denen niemand die Wahrheit gesagt hatte, die aber ahnten, worum es ging, versuchten alles, um sie aufzumuntern, doch Elsa blieb teilnahmslos.
    »Was sollen wir denn tun?« fragte Laetitia verzweifelt. Elsa schlug die Augen auf, die übergroß waren in dem mageren Gesicht und in tiefen Höhlen lagen. »Ich will mein Kind«, sagte sie.
    Laetitia begriff, daß ihre Tochter entschlossen war zu sterben, wenn ihr Wunsch nicht erfüllt würde. Sie
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