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Sturmzeit

Sturmzeit

Titel: Sturmzeit
Autoren: Link Charlotte
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Respekt hatte, war mit einem Baltendeutschen dahergekommen. Schlimmer noch, mit einem hohen Offizier der russischen Armee. Ferdinand zeigte in all den Jahren keine Bereitschaft, diese Geschmacklosigkeit zu verzeihen, und jedes Jahr kam es während einer der gemeinsamen Mahlzeiten zu dem peinlichen Moment, da er seine Töchter vor versammelter Mannschaft durchdringend ansah und laut sagte: »Es ist wohlso, daß man als Frau nehmen muß, was man eben kriegen kann, nicht?«
    Es war ein heißer Juliabend, und der alte Herr blickte sehr mißmutig drein. Er saß im Eßzimmer von Lulinn, unter Hirschgeweihen und Ahnenbildern, schluckte seine Herztropfen und betrachtete zornig den gedeckten Abendbrottisch. Zehn Minuten über die festgesetzte Zeit; die vielen eigenwilligen Mitglieder seiner Familie hielten es offenbar nicht für nötig, pünktlich zu kommen. Nur seine Frau Laetitia saß in einem Lehnstuhl am Fenster, und seine Tochter Elsa lehnte daneben an der Wand. Beide blickten hinaus in den leuchtenden Sommerabend, und Elsa hatte ganz offenbar wieder ihre Melancholie. Sie war eine zarte, blasse Frau, von der kein Mensch wußte, wie sie, eine so empfindsame Person, einer so rauhbeinigen Familie hatte entspringen können. In diesen Tagen litt sie um ihren Sohn Johannes. Wegen Sarajewo war er nicht nach Lulinn gekommen, sondern »hielt sich in Berlin bereit«, wie er schrieb. Bereit wofür? fragte sich Elsa bekümmert. Der alte Domberg knurrte wütend. »Früher war es üblich, daßsolche, die zu spät kommen, eben nichts mehr kriegen«, sagte er zornig, »aber heutzutage wird gewartet, bis auch der letzte einzutreffen geruht. Eine Schande ist das!« Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß das Geschirr schepperte. Laetitia wandte sich ihm zu. In ihrer Jugend hatte sie zu den schönsten Mädchen der östlichen Provinzen gehört, und noch im Alter erkannte man die grandiose Beauté, die sie einst gewesen war. Sie hatte die schmalen, eisgrauen Augen, die den meisten Frauen ihrer Familie zu eigen waren, eine gerade Nase und schmale Lippen. Sie sprach mit tiefer, rauchiger Stimme und galt als unumschränkte Herrscherin auf Lulinn. »Reg dich nicht auf, Ferdinand«, sagte sie, »du hast ein schwaches Herz, vergißdas nicht. Victor und Gertrud sind übrigens gerade ins Haus gekommen. Sie müssen gleich hier sein.«
    Ferdinands Gesicht verfinsterte sich noch mehr, wie immer,wenn der Name seiner Schwiegertochter fiel. Mit Victor, seinem Ältesten, hatte Ferdinand ehrgeizige Pläne gehabt. Er sollte die vornehmste Frau aus der besten Familie heiraten; statt dessen kam er eines Tages mit Gertrud an, einem unansehnlichen dicklichen Mädchen, das kaum den Mund aufbrachte. Die ganze Familie rätselte, was ein gutaussehender Mann wie Victor an dieser verkniffenen Frau aus kleinbürgerlichen Verhältnissen fand.
    Ferdinand hatte sich bis zu diesem Tag nicht mit ihr abgefunden. »Seit unseren Zeiten, Laetitia, ist es mit der Familie bergab gegangen«, sagte er gehässig. Laetitia teilte seine Ansicht über Gertrud durchaus, scheute jedoch aus einer gewissen Loyalität heraus davor zurück, dies so unverblümt zu zeigen. Gertrud gehörte zur Familie, und eine Familie, davon war Laetitia überzeugt, konnte nur stark sein, wenn sie zusammenhielt.
    So erwiderte sie nichts, sondern wandte ihr Gesicht wieder dem Fenster zu. »Dort kommt Belle«, sagte sie lebhaft, »mit Nicola! Wie süß die Kleine aussieht!«
    Belle, eigentlich auf den Namen Johanna Isabelle getauft und zeitlebens von der Familie nur »Belle« gerufen, war eine große und schwere Frau, fast ein wenig zu füllig, aber so schön, daßjedes Pfund an ihr kostbar schien. Sie trug ein helles Musselinkleid, ihr goldbraunes Haar leuchtete im Abendsonnenlicht. An der Hand führte sie ihre sechsjährige Tochter Nicola.
    Belle lebte seit ihrer dramatischen Hochzeit mit Oberst Julius von Bergstrom in Petersburg. Sie führte ein aufwendiges gesellschaftliches Leben, ging am Zarenhof ein und aus, und Ferdinand verfärbte sich jedesmal vor Wut, wenn er daran dachte, daß seine Enkelin Nicola zwischen lauter Russen aufwachsen mußte, Slawen, von denen er immer sagte, daß sie noch mal Unglück über Deutschland bringen würden.
    »Möchte wissen, was Belle tut, wenn es Krieg gibt«, brummte er, »sie muß sich doch wie eine Verräterin fühlen mit ihrem Russen, den sie da geheiratet hat!«
    »Er ist kein Russe«, widersprach Laetitia, »er ist Deutscher.«
    »Baltendeutscher. Die Balten
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