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Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt
Autoren: Gisa Pauly
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entschlossen hatte, hörte sie eine Stimme: »Aletta!«
    »Insa!« Sie schrie den Namen, noch ehe sie ihre Schwester gesehen hatte. »Insa, hilf mir! Hol die Leiter!«
    Sie sah, wie Insa zu dem Gartenhäuschen lief, an dessen Seite die Leiter lehnte. Als sie zurückkehrte, fielen direkt neben der Dachluke einige Pfannen herab, die Umgebung des Fensters begann zu bröckeln, Dämmmaterial fiel herab. Aletta spürte, dass das Dach bald zusammenbrechen würde. Nicht mehr lange, und das Fenster würde sich lösen, die Balken würden nachgeben, das Dach würde einstürzen und sie unter sich begraben.
    Insas Stimme kam von weit her. »Aletta! Schnell! Auf die Leiter!«
    Insa lehnte sie an die Traufe und gab Aletta aufgeregte Zeichen. Vorsichtig verließ sie die Sicherheit der Fensterrahmung und rutschte in Richtung Traufe. Die Leiter war nun nah. Sie tastete mit dem rechten Fuß danach, doch kaum hatte sie die erste Sprosse berührt, gab die Traufe nach. Sie riss vom morschen Dach und fiel mitsamt der Leiter zu Boden.
    »Insa! Hilf mir!«
    In diesem Augenblick sah Aletta einen Mann in den Garten kommen. Er lief zu Insa. »Ich habe das Feuer von weitem gesehen. Ich hatte solche Angst, dass es euer Haus ist ...«
    Reik erstarrte, als er Insas Blick folgte und Aletta auf dem Dach entdeckte. »Um Gottes willen! Wie kommt sie da hinauf?«
    Insa versuchte ein weiteres Mal, die Leiter anzustellen, aber jedes Mal rutschte sie wieder weg, löste Pfannen aus dem Dach und fiel mit ihnen zusammen zu Boden.
    Reik nahm Insa die Leiter aus der Hand. »Ist Sönke auch da oben?«
    Aletta hatte seine Frage gehört. »Er nimmt die Treppe im Haus.«
    Reik lehnte die Leiter an einen Teil des Daches, der noch relativ unversehrt war. »Du musst da rüber«, rief er. »Schaffst du das?«
    Aletta zögerte, dann nickte sie.
    »Nicht nach unten schauen!«, rief Reik.
    Aletta setzte einen Fuß aufs Dach, stellte fest, dass es sie trug, drehte sich um und suchte mit den Händen nach einem Halt. Sie fand keinen. Die Tränen schossen ihr in die Augen, als sie sich bäuchlings aufs Dach legte und versuchte, sich zu der Leiter hinzubewegen, indem sie ihren Körper durch vorsichtiges Wiegen, Anheben und Niederlassen voranschob. Nur zentimeterweise kam sie voran. Nun fanden ihre Fingerspitzen die obere Kante einer Dachpfanne, die stabil genug schien, um sie zu halten, und ihre Füße kamen auf der Wölbung einer Dachpfanne zu stehen, die ihr Stütze bot. Mühsam bewegte sie sich auf die Leiter zu, von Reik und Insa mit bestärkenden Worten unterstützt.
    Die Hände taten ihr weh, der raue Ton schnitt in ihre Handflächen. Nur einen Moment wollte sie sich von diesem Schmerz lösen – prompt rutschten ihre Füße weg, sie musste erneut fest zugreifen und den Schmerz ertragen. Verzweifelt klammerte sie sich fest.
    Insa schrie auf. »Aletta! O Gott! Du musst es schaffen. Vorsichtig, ganz vorsichtig! Aber schnell, Aletta! Pass auf ...«
    Es waren nicht Insas Worte, die Aletta erreichten, sondern der Klang ihrer Stimme. In Alettas Kopf spaltete sich etwas, die Sorge in Insas Stimme löste sich von ihrer Angst vor dem Feuer, Insas ängstliches Flehen wurde stärker als die Gefahr. Und sie liebt mich doch, dachte sie und klammerte sich, so fest es ging, an die Dachpfanne, während ihre Füße nach einem neuen Halt suchten. Sie liebt mich doch.
    »Aletta! Mein Kind!«
    Das war eine andere Stimme, eine neue, eine, die sich einmischte, die sich zu Insas und Reiks Stimmen gesellte. Eine Stimme, die sie gut kannte.
    »Sei vorsichtig, mein Kind!«
    Pfarrer Frerich! Auch auf ihn hatte sie im Gefängnis vergeblich gewartet. Auch er hatte nicht gewusst, wo sie geblieben war. Auch er musste der Ansicht gewesen sein, dass sie ein zweites Mal weggelaufen war.
    »Vater«, flüsterte sie. »Vater, hilf mir!«
    Aber sie wurde da unten nicht gehört.
    »Hilf ihr, Reik!«, schrie Insa. »Geh die Leiter hoch! Geh! Lass sie nicht allein!«
    »Die Leiter wird uns beide nicht tragen, Insa!«
    »Geh schon, Reik! Geh schon! Bitte, lass Aletta nichts geschehen. Aletta, Kind! Verlass mich nicht!«
    Nun war die Angst so groß, dass sie herausmusste. Aletta schrie so laut sie konnte: »Vater! Hilf mir, Vater!«
    Insas Stimme kippte, aus ihrem Schreien wurde ein wildes Weinen. »Aletta!« Dann brüllte sie aus Leibeskräften: »Du musst ihr helfen, Reik! Du musst!«
    »Vater, hilf mir!«, weinte Aletta.
    »Sie ruft dich, Reik!«, schrie Insa. »Hörst du es nicht? Deine Tochter braucht
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