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Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt
Autoren: Gisa Pauly
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geht.«
    »Selbstverständlich«, antwortete Reinhard. »Mein Chefredakteurtut alles, was Sie wünschen. Er ist begeistert, dass niemand sonst Ihre Geschichte bekommt.«
    Aletta lehnte sich zurück, nahm einen Schluck Kaffee und begann zu erzählen, ohne darauf zu achten, ob Reinhard mit dem Stenografieren nachkam.
    »Ich hatte ein gutes Zuhause. Meine Eltern liebten mich, ich wuchs als Nesthäkchen auf, wurde erst geboren, als meine ältere Schwester schon fünfzehn Jahre alt war. Nur eines hat meine Kindheit überschattet: dass ich von meiner Schwester abgelehnt wurde. Sie konnte mich nicht lieben, sie wollte mich nicht lieben, sie stieß mich von sich, aber in Wirklichkeit stieß sie damit die Liebe von sich, die sie mir nicht geben durfte. Nicht so, wie es natürlich und normal gewesen wäre.«
    Reinhard sah verwirrt aus. »Wie meinen Sie das?«
    Aletta stand auf und trat ans Fenster ihres Hotelzimmers. Eine Weile sah sie hinaus, als müsste sie sich sammeln. Dann drehte sie sich um, und nun stand ein Lächeln auf ihrem Gesicht, das Reinhard aufmerken ließ.
    »Die Frau, die sich meine Schwester nannte, ist in Wirklichkeit meine Mutter«, sagte sie mit so viel Wärme in der Stimme, dass Reinhard die Augen feucht wurden. »Sie war erst fünfzehn, als sie mit mir schwanger wurde, und mein Vater gerade ein Jahr älter. Meine Mutter ... nein, meine Großmutter merkte wohl eher als Insa, was los war. Reik, mein Vater, erfuhr gar nichts von der Schwangerschaft. Für meine Eltern ... meine Großeltern stand fest, dass diese Schande nicht ans Tageslicht kommen durfte.« Aletta setzte sich wieder und machte Reinhard darauf aufmerksam, dass er vor lauter Anspannung das Mitschreiben vergaß. »Wir hatten eine Engelmacherin auf Sylt. Zu der sollte Insa gehen.«
    Reinhard mochte es kaum aussprechen. »Sönkes Mutter?«
    Aletta nickte. »Sie war kurz vor der Geburt ihres Sohnes nach Sylt gekommen. Anscheinend hatte niemand sie gesehen, als sie bei ihrer Tante eintraf. Bei ihr hatte sie sich Hilfe erhofft, aber sieüberredete Frauke, sich dieses unerwünschten Kindes zu entledigen. Erst nach Sönkes Geburt, als sie ihr Kind schon ausgesetzt hatte, fiel sie jemandem auf. Seitdem hatte es geheißen, sie sei erst nach Sönkes Geburt auf die Insel gekommen.«
    »Sie hat Sönke auf der Kirchenstufe abgelegt«, wusste Reinhard, »und sie fragt sich bis heute, wer ihn in die Sakristei gebracht hat. Und warum sie seitdem als Diebin gilt, das fragt sie sich auch.«
    Aletta nahm ein Gebäckstück und betrachtete es von allen Seiten, bevor sie es in den Mund steckte. Ein paar Fragen, ein paar Versuchungen erschienen vor ihren Augen, dann schüttelte sie unmerklich den Kopf. Nein, es gab Geheimnisse, die sollten dort bleiben, wo sie entstanden waren.
    Als hätte es Reinhards Einwand nicht gegeben, sprach sie weiter: »Witta Lornsen, meine Großmutter, ging mit ihrer Tochter zu Frauke, Insas Vater hatte es so verlangt. Aber Witta war eine fromme Frau. Sie wusste, dass es eine große Sünde war, ungeborenes Leben zu töten. Deshalb entschloss sie sich in letzter Sekunde anders und brachte Insa zurück nach Hause. Der Pfarrer hatte sie auf eine Idee gebracht ...«
    »Deswegen also wusste Frauke von Insas Schwangerschaft?«, warf Reinhard ein.
    »... und war daher in der Lage, Insa unter Druck zu setzen, als sie für Sönke ein sicheres Versteck suchte.«
    »Insa musste sich darauf einlassen, denn seit Sie nach Sylt zurückgekehrt waren, wurde es für sie noch wichtiger, ihr Geheimnis zu bewahren.«
    Aletta merkte, wie gut sich Reinhard in ihr Leben und das ihrer Mutter einfühlen konnte. »Es war für sie sehr schwer, ihre Muttergefühle verdrängen zu müssen. Das hat sie nur ausgehalten, indem sie mich nicht an sich heranließ. Sie hätte es nicht ertragen, ihr eigenes Kind im Arm zu halten und nichts als die Schwester sein zu dürfen. Dass ich Sängerin wurde, war für meine Mutter eine einzige Qual. Sie wusste, von wem ich meinTalent geerbt hatte. Meinen Vater und mich gemeinsam singen zu hören, das hat sie gefoltert. Ahnungslos stellten wir den Beweis zur Schau, dass wir Vater und Tochter sind.«
    Reinhard schloss die Augen, als wollte er das Bild, das vor seinen Augen entstand, nicht sehen. Dann aber riss er sie wieder auf. »Wie war es möglich, dass niemand die Wahrheit erkannt hat?«
    »Meine Mutter und meine Schwester, also ...«
    »Schon klar«, murmelte Reinhard. »Ihre Großmutter und Ihre Mutter.«
    »Ja, die beiden machten
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