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Sturm über Sylt

Sturm über Sylt

Titel: Sturm über Sylt
Autoren: Gisa Pauly
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dich!«

XVIII.
    1919
    Die Hamburger Staatsoper hatte ihre erste Premiere nach dem Krieg hinter sich. Der Intendant hatte »Don Giovanni« auf die Bühne gebracht, und der Dirigent Anton Heussner zeigte sich hocherfreut über das gelungene Comeback von Aletta Lornsen, mit dem er nicht gerechnet hatte. »Ich gebe zu«, sagte er zu Journalisten, die sich um die Sängerin scharten, »dass ich ohne Hoffnung war, nachdem ich Aletta Lornsen im ersten Kriegsjahr auf Sylt besucht hatte. Es kam mir so vor, als wäre ihre Karriere zu Ende.«
    Dass er Zeuge ihrer Verhaftung gewesen war, erwähnte er nicht, Anton Heussner war Kavalier. Trotzdem spürten alle Journalisten, dass hinter seinen Worten eine Geschichte steckte, aus der sich ein Aufreißer machen ließ. Das Lächeln, mit dem AlettaLornsen ihn bedachte, und das kurze Schweigen, mit dem Anton Heussner antwortete, sprachen Bände. Aber Heussner war kein Wort zu entlocken, und Aletta Lornsen machte klar, dass sie nicht bereit war, allzu Privates vor der Presse auszubreiten. Das hatte sie von Ludwig Burger gelernt, aber natürlich sprach sie es nicht aus. Ludwigs Name war nie wieder über ihre Lippen gekommen, wie sie es sich nach seinem Tod vorgenommen hatte. Aus diesem Schweigen war ein Denkmal geworden, das jedes Mal, wenn sie Ludwigs Namen herausschwieg, ein bisschen größer wurde.
    Eine Stunde später saß sie allein in ihrer Garderobe, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Die Musik vibrierte noch in ihr, der Applaus bestimmte noch immer ihren Pulsschlag, und die Bravorufe klangen nach wie vor in ihrem Kopf. Der Krieg war vorbei! Sie war wieder da!
    Sie öffnete die Augen und sah in den Spiegel. Die Kriegsjahre hatten sie nicht verändert. Ihr Gesicht war nicht schmaler geworden, ihr Körper nicht ausgezehrt, ihr Mund war noch breit und konnte lachen, und ihre Lippen waren voll und verlockend wie eh und je. Sie löste die Haare und fuhr mit den Fingerspitzen hindurch. Dann bewegte sie die Lippen, als wollte sie Ludwigs Namen flüstern. Aber sie tat es nicht. Es hätte Ludwig von dem Sockel der Erinnerung gestürzt, auf dem er stehen sollte, solange sie lebte. Erst als im November 1918 der Waffenstillstand ausgerufen wurde, hatte sie gewagt, ihm in Gedanken einen Säugling in den Arm zu legen, um die Erinnerung zu vergolden. Und er hatte seine Haltung nicht verändert, hatte immer noch aufrecht dagestanden, gelächelt und gesagt: »Wenn du mir nah sein willst, sing!« Der Säugling blieb in seinem Arm liegen, er reichte ihn Aletta nicht zurück, und sie war ihm immer noch nah, wenn sie sang.
    Es klopfte, ein junger Mann trat ein, dessen Profession leicht an dem Schreibblock zu erkennen war, den er mit sich führte. »Darf ich kurz stören?«
    Aletta wollte ungeduldig ablehnen, ärgerte sich darüber, dass er vorgelassen worden war, und wollte nach ihrer Garderobiere rufen, damit sie dafür sorgte, dass sie nicht gestört wurde.
    Aber bevor sie etwas sagen konnte, stellte er sich vor: »Reinhard Eichler. Ich soll Ihnen beste Grüße von Sönke ausrichten.«
    Erfreut stand sie auf und streckte ihm die Hand hin. »Sie sind der Bruder seines neuen Chefs? Wie schön, dass ich Sie kennenlerne! Wie geht es Sönke?«
    Über Reinhards Gesicht glitt ein Lächeln. »Sehr gut. Er fühlt sich wohl in der Schreinerei meines Bruders.«
    »Und seine Mutter?«
    Reinhards Lächeln vertiefte sich. »Sie wohnt bei ihm. Meinem Bruder macht sie den Haushalt.«
    Aletta betrachtete Reinhard anerkennend. »Sönke brauchte ein richtiges Zuhause und Menschen, die wirklich zu ihm stehen. Ich bin glücklich, dass er nun beides gefunden hat.«
    Reinhard wurde verlegen. »Ich habe meine erste Stelle als Journalist bekommen. Keine bedeutende Zeitschrift, aber immerhin. Wenn ich ihm eine gute Story bringe, hat der Chefredakteur gesagt, erhalte ich eine feste Anstellung. Und Sönke meinte, mir würden Sie Ihre Geschichte vielleicht erzählen.«
    »Das wäre dann eine gute Story?«
    Reinhard nickte eifrig. »O ja! Sie sind so populär wie vor dem Krieg, Frau Lornsen. Ach was! Noch populärer!«
    Aletta gähnte verstohlen. »Also gut, für Sönke ... Kommen Sie morgen Vormittag zu mir. Um elf? Dann erzähle ich Ihnen alles.«
    Reinhard Eichler erschien pünktlich. Aletta ließ Kaffee und Gebäck kommen, dann sah sie zu, wie Reinhard seinen Stenoblock hervorholte und den Bleistift spitzte. »Sie kriegen die Story exklusiv«, sagte sie. »Aber ich will sie gegenlesen, bevor sie in Druck
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