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Sturm ueber roten Wassern

Sturm ueber roten Wassern

Titel: Sturm ueber roten Wassern
Autoren: Scott Lynch
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Locke spürte, wie ihm vor Aufregung ein Schauer über den Rücken lief.
    War es möglich? Locke versuchte, die schemenhafte Figur im Blickfeld zu behalten, während er vorgab, sich auf sein Blatt zu konzentrieren. Die Lichtreflexe auf den Brillengläsern bewegten sich nicht – der Mann fixierte tatsächlich ihren Spieltisch. Endlich hatten Jean und er die Beachtung des Mannes gefunden (wobei ihnen auch der Zufall oder die Götter zu Hilfe gekommen sein mochten), der in der neunten Etage seine Geschäftsräume unterhielt – der Herr und Gebieter über den Sündenturm, der heimliche Herrscher aller Diebe in Tal Verrar, ein Mann, der sowohl die Welt des Luxus als auch die des Diebstahls eisern im Griff hatte. In Camorr hätte man ihn capa genannt, doch hier trug er keinen Titel, nur seinen Namen. Requin.
    Locke räusperte sich, wandte sein Augenmerk wieder dem Tisch zu und rüstete sich, mit Anstand eine weitere Runde zu verlieren. Draußen auf dem dunklen Wasser wurden die Schiffsglocken angeschlagen, deren leises Echo man im Spielsalon hören konnte; es war die neunte Abendstunde.

4
     
     
    »Achtzehnte Runde«, sagte der Croupier an. »Erster Einsatz zehn Solari.« Mit merklich zitternder Hand musste Locke zuerst die elf kleinen Fläschchen beiseite räumen, ehe er seine Spielmarken nach vorn schieben konnte. Madam Durenna, ruhig wie ein im Trockendock liegendes Schiff, paffte mittlerweile ihre vierte Zigarre. Madam Corvaleur schien auf ihrem Stuhl zu schwanken; waren ihre Wangen nicht ein bisschen röter als sonst? Locke bemühte sich, sie nicht zu auffällig anzustarren, als sie ihren Einsatz in den Pot gab; möglicherweise kam es ihm in seinem beschwipsten Zustand auch nur so vor, als ob sie wankte. Es war kurz vor Mitternacht, und die mit Qualm geschwängerte Luft des stickigen Raums kratzte in Lockes Augen und Hals wie Wolle.
    Der Croupier, emotionslos und hellwach wie immer – er schien genauso eine Maschine zu sein wie das Karussell, das er bediente – teilte Locke drei Karten aus. Locke bewegte seine Finger unter dem Revers seines Rocks hin und her, dann warf er einen Blick auf seine Karten und gab ein langgezogenes »Ahhhhha« von sich, das sowohl Interesse als auch Freude bekundete. Er hatte ein einmalig schlechtes Blatt ergattert das nutzloseste des gesamten Abends. Locke blinzelte und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen; er fragte sich, ob der Alkohol vielleicht dazu führte, dass er ein eigentlich ordentliches Blatt nicht erkannte, doch als er wieder hinsah, war es immer noch wertlos.
    Endlich waren auch die Damen gezwungen gewesen, ein paar Fläschchen zu leeren; doch falls Jean, der zu Lockes Linken saß, nicht ein Blatt zugeteilt bekommen hatte, das einem größeren Wunder entsprach, musste er sich darauf gefasst machen, dass bald noch eine kleine Phiole fröhlich über den Tisch auf seine flatternden Finger zurollte.
    Achtzehn Runden, sinnierte Locke, und bis jetzt haben wir neunhundertundachtzig Solari verloren. Seine Gedanken, gelöst durch den Alkohol, den der Sündenturm den Verlierern spendierte, schweiften vom aktuellen Geschehen ab und stellten ihre eigenen Kalkulationen an. Die Summe, die sie an einem einzigen Abend verzockt hatten, reichte aus, um einen Mann von Stand ein Jahr lang mit der prächtigsten Garderobe, die es für Geld zu kaufen gab, auszustatten. Sie entsprach dem Wert eines kleinen Schiffs oder eines sehr großen Hauses. Ein rechtschaffener Kunsthandwerker, zum Beispiel ein Steinmetz, verdiente in seinem ganzen Leben nicht so viel. Hatte er in seiner Karriere als Trickbetrüger und Dieb irgendwann einmal vorgegeben, ein Steinmetz zu sein?
    »Erste Optionen«, verkündete der Croupier, und Lockes Gedanken kehrten zum Spiel zurück.
    »Karte«, meldete Jean. Der Croupier warf ihm eine zu; Jean linste darauf, nickte und schob einen weiteren hölzernen Chip in die Mitte des Tisches. »Ich erhöhe.«
    »Ich gehe mit«, erklärte Madam Durenna. Sie nahm zwei Spielmarken von ihrem ansehnlichen Stapel und legte sie in den Pot. »Aufdecken für den Partner.« Zwei Karten ihres Blattes zeigte sie Madam Corvaleur, die sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte.
    »Karte«, verlangte Locke. Der Croupier teilte ihm eine aus, und er hob eine Ecke gerade so weit an, dass er ihren Wert erkennen konnte. Es waren zwei Kelche, die ihm in seiner Situation genauso viel nutzten wie ein Haufen Hundescheiße. Er rang sich ein Schmunzeln ab. »Ich gehe mit«, sagte er und schob zwei
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