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Stromschnellen: Roman (German Edition)

Stromschnellen: Roman (German Edition)

Titel: Stromschnellen: Roman (German Edition)
Autoren: Bonnie Jo Campbell
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sie ihn darum bat, aber ihr Großvater hatte immer betont, wie wichtig es war, eine Arbeit selbst zu erledigen. Also streckte sie den Arm nach oben und stieß die Klinge einen Fingerbreit unterhalb der Stelle ins Fleisch, wo die Rippen aufeinandertreffen. Fest und gleichmäßig zog sie den Messergriff nach unten und schlitzte den Hirsch vom Brustbein bis zu den Hoden auf. Sie durchtrennte Haut, Fleisch und Fettgewebe, und als der Aufbruch in die Zinkwanne schwappte, schloss sie die Augen.
    Ein Gewehrschuss knallte auf der anderen Seite des Flusses am Farmhaus der Murrays. Margo ließ das Messer in die Wanne mit den verknäulten, dampfenden Eingeweiden fallen. Es folgte ein zweiter Schuss. Die vier Beagles der Murrays warfen sich bellend gegen ihren Verschlag aus Holz und Hühnerdraht. Das Jaulen des schwarzen Labradors hallte über den Fluss. Früher hatte Margo sich zum Lesen oft auf den Boden gelegt und mit dem Rücken an den Hund gelehnt; sie hatte ihn in ihrem Boot herumgerudert und war mit ihm schwimmen gegangen. Aber diesen Sommer hatte Crane ihr das Schwimmen und jedes Überqueren des Flusses strikt verboten.
    Ein dritter Schuss schallte vom anderen Ufer herüber.
    Margo hatte immer befürchtet, dass Crane ihren Onkel eines Tages umbringen würde. Dafür würde Crane ins Gefängnis kommen, und sie wäre auf sich allein gestellt. Von ihrer Mutter hatte sie seit deren Verschwinden vor anderthalb Jahren nichts gehört. Auf dem mit Reihern verzierten blauen Stück Papier, das auf dem Küchentisch lag, hatte folgende Nachricht gestanden: Liebe Margaret Louise, ich hoffe, Du weißt, dass ich Dich nicht im Stich lasse. Ich würde Dich gern mitnehmen, aber zuerst muss ich mich selbst finden, und das kann ich hier nicht. Pass auf Deinen Daddy auf, ich melde mich bald bei Dir. Alles Liebe, Mom.
    Margo hatte befürchtet, wenn sie das Papier nicht pfleglich behandelte, könnte die dunkelblaue Tinte sich verflüchtigen, die Reiher könnten davonfliegen, das Papier sich auflösen und nichts als ein Hauch von Kakaobutter und ein paar Tropfen Wein zurückbleiben.
    Ein vierter Gewehrschuss hallte übers Wasser.
    Margo starrte in die Mulde, die sie in den halb gefrorenen Boden gegraben hatte, um die Eingeweide des Hirschs zu verscharren. Ihr war klar, dass sie schnell handeln musste, um das Verbrechen ihres Vaters zu vertuschen. Also packte sie Schaufel und Knochensäge, warf beides ins Boot und ruderte über den Fluss. Auf der anderen Seite machte sie fest und kletterte die Uferböschung hoch. Als sie am weiß getünchten Schuppen vorbeikam, hatte sie ein mulmiges Gefühl, aber sie ging weiter, und gleich darauf erblickte sie Cals neuen weißen Chevy Suburban zusammengesunken auf vier platten Reifen.
    Daneben stand groß und breitschultrig Cal und brüllte dem verbeulten Heck von Cranes Ford hinterher: »Crane, du Dreckskerl! Die Winterreifen waren nagelneu!«
    Erleichtert sank Margo gegen die Schuppenwand.
    Tante Joanna trat neben Cal. Sie trug eine Schürze, aber keine Jacke, hielt einen Apfel in einer schwieligen Hand und ein Schälmesser in der anderen. Fast wäre Margo bereit gewesen, Cal alles zu verzeihen, wenn sie dafür mit Joanna in der großen Küche der Murrays am brennenden Ofen hätte sitzen, mit ihr Äpfel schälen und ihr hätte zuhören können, wie sie sang oder von ihren Kochschülern von der Landjugend erzählte, zu denen Margo auch einmal gehört hatte.
    Am Mittwoch, dem Tag vor Thanksgiving, beobachtete Margo gerade das Haus der Murrays am anderen Flussufer, als dort ein Hirsch mit stelzendem Schritt den Pfad neben dem weiß getünchten Schuppen zum Wasser hinunterging. Das Tier trank, blickte flussabwärts und bot sich Margo perfekt im Profil dar. Margo legte das Gewehr an, richtete das Visier auf einen Punkt knapp hinter dem Vorderlauf und zielte dann ein klein wenig höher, um die Schwerkraft über die Entfernung auszugleichen. Ruhig schoss sie dem Tier eine Kugel in Herz und Lungen und federte den Rückstoß ab. Sie war sich nicht sicher gewesen, ob sie über eine Distanz von knapp dreihundert Schritt treffen würde, aber der Hirsch knickte an den Vorderläufen ein und kippte vornüber in den Sand, als würde er sich verneigen. Margo wartete ein paar Minuten, um zu sehen, ob der Knall irgendeinen Murray aufgeschreckt hatte, aber es ließ sich niemand blicken. Sie nahm das große Messer, und ihr graute bei der Vorstellung, dem Tier endgültig den Garaus machen zu müssen, indem sie ihm die
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