Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stresstest Deutschland

Stresstest Deutschland

Titel: Stresstest Deutschland
Autoren: Jens Berger
Vom Netzwerk:
Talk-Show-Helden auftreten, haben die wenigsten ihrer Wähler und Nichtwähler irgendetwas gemein. Der Politiker von heute ist kein Idol, er ist kein Visionär und auch kein ehrlicher Makler. Er ist ein PR -Produkt, austauschbar in seiner belanglosen Unverbindlichkeit. Kennt eigentlich noch irgendwer die großen »Leuchttürme« der Politik des vergangenen Jahrzehnts: Ruprecht Polenz, Hubertus Heil, Klaus Uwe Benneter oder Peter Hinze? Wird in fünf Jahren noch irgendwer Ronald Pofalla, Hermann Gröhe, Alexander Dobrindt oder Andrea Nahles kennen? Nein, warum auch? Ein kleiner Tipp an alle Leser, die hier selbst ins Schwimmen kommen: Alle genannten Herren und die Dame waren oder sind Generalsekretäre einer Volkspartei.
    Was heute oft als Politik-, Politiker- oder auch als Parteienverdrossenheit beschrieben wird, ist strenggenommen eher eine Systemverdrossenheit Wie weit diese Systemverdrossenheit allerdingsgeht, ist umstritten. Wäre das Volk wirklich so systemverdrossen, wie manche kritischen Beobachter vermuten, müsste es doch eigentlich aus dem binären Lagerdenken ausbrechen. In den Köpfen der Publizisten lässt sich die deutsche Parteienlandschaft grob in zwei Lager aufteilen – das »bürgerliche« Lager mit den Unionsparteien und der FDP und das »linke« Lager mit der SPD und den Grünen. Diese Definition greift jedoch noch auf das Parteiensystem der Weimarer Republik zurück, in dem die Parteien auch mehr oder weniger klar mit bestimmten sozialen Schichten korrespondierten – das Zentrum (Vorgänger der Unionsparteien) mit dem Bürgertum und die SPD mit der Arbeiterklasse. Obwohl dieses Lagerdenken eigentlich spätestens mit der Entwicklung der beiden großen Parteien zu Volksparteien überwunden sein sollte, finden auch heutzutage noch die größten Wählerwanderungen innerhalb des vemeintlich bürgerlichen und des vermeintlich linken Lagers statt. Wählerwanderungen zwischen den Lagern sind heute häufiger zu beobachten als früher, es kommt jedoch eher selten vor, dass Wähler einer Partei, die nicht so einfach einem der beiden Lager zuzuordnen ist, ihre Stimme geben. Dies könnte sich mit den jüngsten Erfolgsmeldungen der Piratenpartei vielleicht ändern, es ist jedoch noch zu früh, um dazu belastbare Aussagen zu machen.
    Da Parteien, die weder in das »bürgerliche« noch in das »linke« Lager passen beziehungsweise von den Wortführern dieser Lager als nicht zugehörig zum entsprechenden Lager bezeichnet werden, nur von einer kleinen Minderheit gewählt werden, scheint es auch mit der Systemverdrossenheit nicht allzu weit her zu sein. Die in diesem Zusammenhang immer wieder genannten Nichtwähler klären diesen Widerspruch ebenfalls nicht auf – bei wichtigen Wahlen, etwa den Bundestagswahlen, ist die Zahl der Nichtwähler heute nicht wesentlich größer als zu den »goldenen Zeiten« der Bundesrepublik, als noch niemand von Systemverdrossenheit sprach. Bei den letzten Bundestagswahlen gaben immerhin sieben von zehn Deutschen ihre Stimme ab, von einer massenhaften Wählerflucht kann da wohl kaum die Rede sein.
    Entweder ist das Volk nicht systemverdrossen, oder es sieht ganz einfach keine Alternative und bleibt aus geistiger Bequemlichkeit lieber beim zweigeteilten Lagerdenken. Man kann auch mit dem Wetter fürchterlich unzufrieden sein, ändern kann man es nicht. Während unsere »systemverdrossenen« Vorfahren in vordemokratischen Zeiten ihr Leben dafür gaben, im politischen System gehört zu werden, muss man heute den Hund schon zum Jagen tragen. Von engagierten Oppositionswählern oder begeisterten Nichtwählern kann wirklich nicht die Rede sein.
    Sollten hierzulande einmal bewaffnete Rabauken die Bürger vom Betreten der Wahllokale abhalten, würde dies bei den Wahlwilligen wahrscheinlich bestenfalls ein Schulterzucken hervorrufen – hätte ich das vorher gewusst, wäre ich gleich und ohne Umweg in die Eisdiele gegangen. Für eine Demokratie ist dies freilich ein jämmerliches Bild.
    Die Deutschen sind zwar latent unzufrieden, rühren aber keinen Finger, um etwas an dieser Unzufriedenheit zu ändern. Sie sind passive Demokraten, die die Politik als Showveranstaltung betrachten. Sie geben ihrem Favoriten die Stimme oder schalten ab und gehen in die innere Emigration – wobei dieser Begriff den Großteil der bildungsfernen Schichten, die lieber Bohlen als Phoenix einschalten und sich ihrer politischen Verantwortung entziehen, sicher nur sehr ungenügend charakterisiert.
    Wer hat uns
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher