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Stresstest Deutschland

Stresstest Deutschland

Titel: Stresstest Deutschland
Autoren: Jens Berger
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Gültigkeit der Marktgesetze eingebleut.
    Der US -amerikanische Ökonom und Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz bringt die vermeintliche Unfehlbarkeit ökonomischer Erkenntnisse in einem kurzen Satz auf den Punkt: » Die Ökonomie ist die einzige Wissenschaft, in der sich zwei Menschen einen Nobelpreis teilen können, weil ihre Theorien sich gegenseitig widerlegen.« 6
    Man versucht seitens der herrschenden Lehrmeinung erst gar nicht, die Diskrepanz zwischen Theorie und Realität zu erklären. Vielmehr werden die Menschen, die nicht daran glauben, dass sie etwas vom XXL -Aufschwung haben, bezichtigt, einer Sinnestäuschung zu unterliegen. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Dass die Menschen aber nicht Opfer von Sinnestäuschungen sind, belegen unzählige Statistiken, von denen einige in späteren Kapiteln noch angeführt werden.
    Welchen Maßstab könnte man also anlegen, wenn man die Frage beantworten will, ob es uns gut geht und ob das Land auf dem richtigen Weg ist? Das Glück oder die Glückseligkeit wären zwar die ideale Benchmark. Leider ist Glück jedoch nicht messbar, und zum Glücksempfinden gehören viele Faktoren, die mit politischen oder wirtschaftlichen Fragen nicht unbedingt im Zusammenhang stehen, etwa das private Umfeld oder die Gesundheit. Einen praktikableren Ansatz bietet da schon die eingangs zitierteUnabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten: Nicht das Glück als solches, sondern das »Streben nach Glückseligkeit« gilt dort als unveräußerliches Recht. Eine Politik, die den Menschen das Streben nach Glückseligkeit ermöglicht, wäre somit eine denkbare Benchmark für unsere Lagebestimmung.
    Begriffe wie Glück oder Freiheit sind zugleich sehr subjektiv. Guido Westerwelle und Sahra Wagenknecht vertreten nicht nur einen anderen Freiheitsbegriff, sondern haben vermutlich auch unterschiedliche Vorstellungen davon, welche Politik das Streben der Menschen nach Glückseligkeit unterstützt. Eine Benchmark, die hier Klarheit bringt, muss demnach auch normativ sein, sie muss Ziele setzen, deren Erreichung wünschenswert erscheint.
    Die Glücksforschung gibt uns da zumindest einen empirischen Befund. Nach dem neoliberalen Dogma fördert Ungleichheit den Wettbewerb, spornt die ärmeren Schichten an, ihren Lebensstandard durch Leistung zu verbessern, und sorgt daher für eine Gesellschaft, in der ein jeder mit vollem Einsatz sein (ökonomisches) Glück suchen kann. Dass diese Theorie falsch ist, belegten die britischen Epidemiologen Kate Pickett und Richard Wilkinson in einer aktuellen und aufsehenerregenden Studie. 7 Pickett und Wilkinson haben in jahrzehntelanger Arbeit Daten zum Zustand der Gesellschaft in modernen Industriestaaten gesammelt und ausgewertet. Sie untersuchten unter anderem die Verbreitung von psychischen Erkrankungen, den Drogenkonsum, die Zahl der Selbstmorde, die Höhe der Lebenserwartung; sie fragten nach dem Bildungsniveau, nach Schwangerschaften von Minderjährigen und der sozialen Mobilität. Die Wissenschaftler kamen zu dem – vielleicht überraschenden – Ergebnis, dass soziale Ungleichheit in einer Gesellschaft es begünstigt, dass negative Faktoren besonders häufig auftreten.
    Nicht nur die Armen, sondern alle soziale Schichten leiden unter der Ungleichheit. So ist beispielsweise die Zahl psychischer Erkrankungen in den USA , wo es gewaltige Einkommensunterschiede gibt, fünfmal so hoch wie in den skandinavischen Ländern und betrifft vor allem Personen mit einem höheren Einkommen.Ungleichheit führt zu Statusangst auf allen Ebenen einer Gesellschaft, und diese macht die Menschen nicht nur unglücklich, sondern auch krank. Die Ergebnisse von Pickett und Wilkinson decken sich mit Studien der University of Leicester. 8 Dort wurde mit Hilfe einer Metaanalyse aus mehr als hundert verschiedenen Studien eine Weltkarte des Glücks erstellt. Auch hier konnten die skandinavischen Länder, in denen Einkommen und Vermögen relativ gleichmäßig verteilt sind, Spitzenplätze erzielen, während Länder, in denen es große Unterschiede bei der Einkommens- und Vermögensverteilung gibt, schlecht abschnitten.
    Die Benchmark für den Stresstest Deutschland ist somit eine gerechte Gesellschaft, in der Einkommen, Vermögen und Macht möglichst gleich verteilt sind, in der die Menschen keine Angst vor sozialem Abstieg haben müssen und die sich durch eine hohe Einkommens- und Bildungsmobilität – das heißt durch gute Aufstiegschancen für die ärmeren Schichten
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