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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Autoren: Bill Bryson
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spazieren ging, und begriff, dass jewede Gefahr vorüber war.
    Eigentlich hatte ich nicht die Absicht, länger in Pella zu bleiben,
doch es war ein so herrlicher Morgen, dass ich begann, gemächlich eine Straße in der Nähe des Platzes entlangzuschlendern, vorbei an gepflegten Holzhäusern mit Kuppeln, Giebeln und Veranden, auf denen Schaukeln leise im Wind quietschten. Ein anderes Geräusch war nicht zu hören, das Rascheln meiner Schritte im trockenen Laub ausgenommen. Mit dem Ende der Straße erreichte ich das kleine, von der Dutch Reformed Church geleitete Central College und seinen von roten Backsteingebäuden umstandenen Campus. Über den Campus führte ein gewundener Weg und eine gewölbte Fußgängerbrücke aus Holz. Die Szenerie wirkte so beruhigend wie eine doppelte Dosis Valium. Das College sah aus wie eines dieser ordentlichen, freundlichen, sittsamen Institute, in denen Clark Kent sich wohlgefühlt hätte. Ich überquerte die Brücke und stieß an der gegenüberliegenden Seite des Campus auf einen weiteren Beweis dafür, dass es außer mir noch andere lebende Personen in Pella gab. Aus dem offenen Fenster eines Studentenwohnheims schmetterte für einen Moment Musik aus einem viel zu laut aufgedrehten Radio – irgendetwas von Frankie Goes to Hollywood, glaube ich –, und augenblicklich ertönte aus undefinierbarer Richtung eine dröhnende Stimme: »Wenn du nicht sofort das Scheißding ausmachst, komme ich rüber und schlage dir die Birne ein!« Es war die Stimme eines beleibten Menschen – vielleicht jemand mit dem Spitznamen Moose. Die Musik verstummte sofort, und Pella verfiel wieder in tiefen Schlaf. Ich fuhr weiter in Richtung Osten, durch Oskaloosa, Fremont, Hedrick, Martinsburg. Die Namen klangen vertraut, doch die Städte selbst riefen kaum Erinnerungen wach. Bis zu dieser Etappe der Fahrt hatte ich bei den meisten unserer früheren Reisen ein Stadium der Apathie erreicht und jammerte im 15-Sekunden-Takt: »Wie lange noch? Wann kommen wir endlich an? Ich langweile mich. Mir ist schlecht. Wie lange noch? Wann sind wir endlich da?« An der Straße in der Nähe von Coppock glaubte ich, eine Kurve wiederzuerkennen, in der wir einmal vier Stunden in einem
Schneesturm festsaßen und auf den Schneepflug warten mussten. Auch andere Stellen kamen mir von früheren Zwangspausen her irgendwie bekannt vor. Wir hielten oft an, weil meine Schwester sich übergeben musste, zum Beispiel an einer Tankstelle in Martinsburg. Dort stürzte sie aus dem Wagen und erbrach sich ausgiebig über die Füße des Tankwarts (meine Güte, konnte der Mensch tanzen!). In Wayland hätte mein Vater mich einmal fast am Straßenrand stehen lassen, nachdem er entdeckt hatte, dass ich aus lauter Langeweile während der Fahrt alle Nieten von der Verschalung einer der hinteren Türen gelöst hatte. Das erlaubte mir zwar interessante Einblicke in den Schließmechanismus, leider waren dadurch jedoch sowohl Fenster als auch Tür ein für alle Mal hinüber. Doch erst kurz hinter Olds, an der Abzweigung nach Winfield, also an der Stelle, an der mein Vater gewöhnlich im Freudentaumel verkündete, dass wir unser Ziel so gut wie erreicht hätten, erkannte ich plötzlich alles wieder. Ich hatte diese Straße mindestens ein Dutzend Jahre nicht gesehen, dennoch waren mir die Hügel und verstreuten Farmen so vertraut wie mein linkes Bein. Mein Herz jubilierte. Es war, als würde die Zeit zurückgedreht: Ich verwandelte mich wieder in einen kleinen Jungen.
    Unsere Ankunft in Winfield war jedes Mal überwältigend. Dad bog vom Highway 78 ab, holperte mit viel zu hoher Geschwindigkeit über eine unebene Schotterstraße, wirbelte weiße Staubwolken hinter uns auf, um dann zum Entsetzen meiner Mutter wie wahnsinnig auf einen unbeschrankten Bahnübergang in einer unübersichtlichen Kurve zuzusteuern und dabei mit ernster Miene zu bemerken: »Hoffentlich kommt kein Zug.« Erst Jahre später fand meine Mutter heraus, dass auf dieser Strecke nur zwei Züge täglich verkehrten, und zwar mitten in der Nacht. Hinter den Bahnschienen stand eine viktorianische Villa mitten auf einer verwilderten Wiese. Sie sah aus wie das Haus in den Cartoons von Charles Addams im New Yorker und war seit Jahrzehnten unbewohnt. Trotzdem stand sie voller Möbel, die
mit feuchten Laken abgedeckt waren. Meine Schwester, mein Bruder und ich kletterten manchmal durch ein zerbrochenes Fenster hinein und durchstöberten die muffigen Kleider in den Schränken, alte Collier’s
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