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Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika

Titel: Strassen der Erinnerung - Reisen durch das vergessene Amerika
Autoren: Bill Bryson
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-Magazine und Fotografien von seltsam besorgt aussehenden Menschen. Im oberen Stockwerk befand sich ein Schlafzimmer, in dem, wie mein Bruder zu berichten wusste, die verschrumpelte Leiche der letzten Hausbewohnerin lag – eine Frau, die an gebrochenem Herzen gestorben war, nachdem ihr Liebster sie vor dem Altar hatte sitzen lassen. Dieses Schlafzimmer betraten wir nie. Nur einmal – ich muss ungefähr vier Jahre alt gewesen sein – schielte mein Bruder durch das Schlüsselloch, schrie auf und brüllte: »Sie kommt!«, um dann Hals über Kopf die Treppe hinunter zu stürzen. Ich folgte ihm wimmernd und machte mir bei jedem Schritt in die Hose. Hinter der Villa breitete sich eine große Wiese aus, auf der schwarzweiße Kühe grasten, und jenseits dieser Wiese stand weiß und hübsch, unter einem Dach aus Bäumen, das Haus meiner Großeltern, mit einer großen, roten Scheune und hektarweise Rasen. Meine Großeltern erwarteten uns immer am Tor. Ich weiß nicht, ob sie uns kommen sahen und dann eilig ihre Stellung einnahmen oder ob sie dort Stunde um Stunde auf uns warteten. Vermutlich trifft Letzteres zu, denn seien wir ehrlich – viel zu tun hatten sie nicht. Es folgten vier oder fünf herrliche Tage. Mein Großvater fuhr einen Model-T-Ford, mit dem er uns Kinder, zum Schrecken der Hühner und älteren Frauen, im Hof herumkurven ließ. Im Winter hängte er einen Schlitten an den Wagen und unternahm mit uns im Schlepptau lange Ausflüge über verschneite Straßen. Abends spielten wir am Küchentisch Karten und gingen spät zu Bett. Im Haus meiner Großeltern war immer Weihnachten oder Thanksgiving oder der Vierte Juli, oder irgendwer feierte Geburtstag. Jedenfalls waren es immer glückliche Tage.
    Gleich nach unserer Ankunft tippelte meine Großmutter in die Küche und holte etwas Frischgebackenes aus dem Ofen.
Immer kam etwas Ungewöhnliches zum Vorschein. Meine Großmutter war der einzige Mensch, den ich jemals kennen gelernt hatte – vermutlich der einzige Mensch auf Erden –, der sich an die Rezepte auf den Rückseiten der Lebensmittelverpackungen hielt. Die Gerichte hatten Namen wie »Rice Krispies ’n’ Banana Chunks Upside-Down Cake« oder »Del Monte Lima Bean ’n’ Pretzels Party Snacks«. Meistens waren die eigenen Produkte des jeweiligen Herstellers unter den Zutaten verdächtig stark vertreten und erschienen in Zusammenstellungen, auf die man selbst – wenn überhaupt – nur im Fall einer besonders großen Hungersnot gekommen wäre. Für diese Gerichte sprach lediglich ihre Originalität. Ein Stück Torte oder ein dampfendes Stück Kuchen aus der Hand meiner Großmutter enthielt so ziemlich alles von Niblets Mais, Schokoladensplittern; Frühstücksfleisch und gewürfelten Karotten bis zu Erdnussbutter. Im Allgemeinen befanden sich auch Reiskrispies darin. Meine Großmutter hatte eine Schwäche für Reiskrispies und fügte grundsätzlich jedem Gericht ein paar Löffel bei, selbst wenn sie laut Rezept nicht hineingehörten. Sie war eine so schlechte Köchin, wie man es nur sein kann, ohne seine Mitmenschen ernstlich zu gefährden.
    Heute scheint alles schon so lange her zu sein. Und das ist es wohl auch. Es ist so lange her, dass meine Großeltern noch ein Kurbeltelefon an der Wand hängen hatten, dessen Kurbel man drehen musste und dann sagen konnte: »Mabel, gib mir Gladys Scribbage. Ich möchte sie fragen, wie sie ihre Frosted Flakes ’n’ Cheez Whiz Party Nuggets macht.« Dann würde sich herausstellen, dass Gladys Scribbage schon in der Leitung war und heimlich mithörte, oder jemand anders hörte heimlich mit und wusste, wie man Frosted Flakes ’n’ Cheez Whiz Party Nuggets macht. Denn eigentlich hörte jeder heimlich mit. Wenn sie sich langweilte, hörte sich auch meine Großmutter die Telefongespräche anderer Leute an. Dann deckte sie mit einer Hand die Sprechmuschel ab und berichtete allen im Raum Anwesenden
lebhaft von verstopften Dickdärmen, Schwangerschaftskomplikationen, Ehemännern, die sich mit der Bardame aus Vern’s Uptown Tavern and Supper Club nach Burlington abgesetzt hatten und von anderen Krisen aus dem Leben in einer kleinen Stadt. Während dieser Sitzungen durften wir keinen Ton von uns geben, was ich nie so recht verstanden habe, denn schließlich mischte sich meine Großmutter selbst gelegentlich ein, sobald die Dinge eine pikante Wendung nahmen. »Also, ich glaube, Merle ist ein ausgewachsener Schweinehund«, sagte sie dann. »Ja, wirklich. Hier spricht Maude
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