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Strasse der Sterne

Strasse der Sterne

Titel: Strasse der Sterne
Autoren: Brigitte Riebe
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war in vielen Kulturen die Straße der Unsterblichkeit.
    Für die Menschen des Mittelalters war das Sternenband, das sich scheinbar von Friesland über die Ile de France und Aquitanien bis nach Compostela und Finisterrae erstreckte, ein Symbol der Hoffnung auf ewiges Glück. Im nächtlichen Dunkel leitete es alle, die ihre Heimat verlassen und sich auf die große Reise zum heiligen Jakobus begeben hatten, der an der äußersten Grenze der bekannten Welt begraben lag.
    Man könnte die Geschichte aber auch so erzählen ...
     
    Der politische Heilige
     
    Vom 5.—II. Jahrhundert formte sich progressiv das, was wir heute als Sakralgeographie des okzidentalen Mittelalters kennen. Kirchliche Strukturen festigten sich, Heiligenkulte blühten auf, eine erste Welle häretischer Streitigkeiten wurde beigelegt, Liturgie bleibend im römischen Sinn ausgeformt. Der christliche Westen bekam sein eigenes Gesicht.
    Es war vor allem das 9. Jahrhundert, in dem der Apostel Jakobus in eine »persönliche« Beziehung zur Iberischen Halbinsel und damit zu ganz Europa trat. Die Abwehrkämpfe des kleinen christlichen Königreiches Asturien gegen die Mauren, die Bemühungen um Unabhängigkeit vom toledanischen Primat und eine reservierte Haltung gegenüber einer karolingischen Einflussnahme förderten ein spirituelles Klima, dessen Materialisierung den Fund beziehungsweise die Wiederentdeckung des Apostelgrabes zur Folge hatte. Gedeckt von der apostolischen Autorität und unterstützt von der christlichen Reconquista, wurde eine Kultdynamik in Bewegung gesetzt, deren Konsequenzen bis in unsere Zeit reichen.
    Mit anderen Worten: Das kleine und so entlegene Gebiet der spanischen Christen konnte nur gehalten werden, wenn die Verbindung nach »drüben« nicht abriss. Es galt, militärische und wirtschaftliche Hilfe ins Land zu locken. Dazu gehörten gut ausgebaute, sichere Straßen, um den Handel in Gang zu halten; dazu gehörten Hospitäler, Kirchen und Klöster, um die Pilger zu beherbergen und zu versorgen.
    Noch wichtiger aber war es, den moralischen Widerstand zu stärken und der Ausbreitung des Islam ein entschiedenes Christentum entgegenzustellen. Die frommen Pilger aus allen Kerngebieten Europas waren sowohl moralisch als auch militärisch eine nicht zu unterschätzende Kraft.
    Nichts kam daher den staatspolitischen Zielen der Könige von Asturien mehr entgegen, nichts förderte die Absichten der Kirche mehr als die »Entdeckung« des Jakobsgrabes in Galicien. Von diesem kleinen Stück Land ging die Formung eines christlichen Europas aus, mit dessen Ergebnissen wir noch heute leben. Gewiss wäre es noch besser gewesen, Christus selbst, sein Leichentuch oder die Leidenswerkzeuge vorzeigen zu können. Aber mit Jakob hatte man immerhin einen seiner ersten Jünger, einen Vertrauten und Kämpfer der ersten Stunde.
    *
    Pilgerströme
     
    Und sie kamen, die Menschen aus nah und fern, zunächst in erster Linie Äbte, Bischöfe, Könige und Adelige, später, ab dem 11., 12. und vor allem 13. Jahrhundert, aber immer mehr Menschen aus allen Schichten: Kranke, Gesunde, Büßer, Ritter, Verbrecher, Huren, Heilige, Männer, Frauen und Kinder. Seitdem Jerusalem im Wirrwarr des blutigen Kreuzzugsgeschehens verloren gegangen war, war es Santiago ganz im Westen, das alle anzog. Der »Heilige Krieg« (Ablassgarantie für jeden, der das Kreuz nahm; Vergebung aller Sünden für jeden, der einen Mauren tötete - die Parallelen zu unserer Zeit sind wahrlich beeindruckend!) - im Osten schien verloren. Ein Grund mehr, den »Heiligen Krieg« im Westen mit kriegerischen und nichtkriegerischen Mitteln zu führen.
    Es war die Massenbewegung des Mittelalters: Der Strom der Pilger wuchs auf eine halbe Million Menschen pro Jahr an, und wie ein aufgefächertes riesiges Flussdelta durchzieht das Netz der Jakobswege ganz Europa. Handel und Verkehr belebten sich, Wissen wurde ausgetauscht und erweitert, fremde Sprachen wurden gelernt - es war der Anfang eines europäischen Bewusstseins oder das »making of modern Europe«, wie man salopp formulieren könnte.
    »Nach Jerusalem um Jesu willen, nach Rom wegen des Papstes und nach Santiago wegen dir selbst« - es gab keinen anziehenderen Wallfahrtsort als Santiago de Compostela, und von Jahr zu Jahr brachen mehr Menschen dorthin auf. Pilgerschaft als Abenteuer, Ich-Findung, Gelübde, Buße, Beschäftigung für die zahlreichen Ritterorden, die im ausgebluteten Nahen Osten »beschäftigungslos« geworden waren. Die Motive
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