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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe
Autoren: Mathias Enard
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saudumm. Und ich schämte mich, auf diese Weise die Erinnerung an Meryem wachzurufen, sie zu verraten, als wäre der Tod eine banale Nachricht, eine Art Wetterbericht oder die Ziehung bei der Lotterie der Diebe.
    »Ist die Tajine gut?«
    »Besser als die bei dir, du Scheißer.«
    Das brachte ihn zum Lachen.
    »Ist auch kein Kunststück.«
    Die Portionen waren riesig, marokkanisch. Wie verrückt machte Bassam sich über seinen Teller her.
    »Judit ist krank«, sagte ich.
    Er sah einen Moment, zwischen zwei Bissen, zu mir auf und begriff nichts; ich hatte dann doch keine Lust, es ihm zu erklären. Ich hätte ihm gerne in allen Einzelheiten von der Ibn Battuta , dem Hafen von Algeciras, Cruz und den Leichen erzählt; von Cruz’ Todeskampf, den ich so lange für mich behalten hatte.
    »Was hast du die ganze Zeit über gemacht?«
    Ich wiederholte die Frage drei- oder viermal, immer wenn er seinen Löffel in den Mund schob; er kippte die Hälfte seiner Coca-Cola hinunter, flüsterte schließlich, nichts Besonderes, stell mir keine Fragen, bevor er sich daranmachte, das Gemüse zu verschlingen und die Hühnerknochen gierig abzunagen; er war noch immer hungrig und bestellte eine Portion Reis mit Trockenfrüchten; einem Reflex folgend, sah ich zum Fernsehapparat hinüber, wo war er gewesen, im Jemen, in Afghanistan, in Mali, vielleicht sogar in Syrien, wer weiß, es gab so viele Plätze, wo man für irgendeine Sache kämpfen konnte, und bestimmt für die Sache Gottes, den Hauptgrund, ich konnte mir Bassam nur schwer vorstellen, wie er mit einem Gewehr in der Hand durch die glühend heiße Wüste robbte – körperlich hatte er sich nicht sehr verändert, er war vielleicht ein kleines bisschen magerer, es war aber nichts, was ins Auge stach; wenn man sich erst an seinen rasierten Schädel gewöhnt hatte, war er der Alte, der Alte, aber stiller, angespannter, älter. Alles war unwirklich. Er hatte die Augen eines geprügelten Hundes, als er wieder auf seinen Teller schaute, ob er an den Krieg dachte, nein, sicher begnügte er sich damit zu kauen, der Hohlkopf.
    Der Name dieses Franzosen, der in Toulouse die jüdischen Kinder niedergemetzelt hatte, fiel mir wieder ein; unmöglich, Bassam mit einer so feigen Tat in Verbindung zu bringen – eine Sekunde lang malte ich mir aus, was ich geantwortet hätte, wenn mich ein Journalist nach ihm gefragt hätte, ein netter Kerl, hätte ich gesagt, ziemlich komisch, der gerne Mädchen hinterhersah und gerne gut speiste.
    »Warst du das in Tanger, im Café Hafa ?«
    Er schaute von seinem Teller auf, pflanzte seinen leeren Blick in mein Gesicht, ich wandte die Augen ab.
    Ich hatte keine Lust mehr, es zu wissen.
    Ich hatte keine Lust mehr zu wissen, welcher Krieg da geführt wurde, welches sein Krieg war; ich hatte keine Lust, seine Lügen oder seine Wahrheit zu erfahren.
    Ich dachte an Cruz zurück, wie er, von den Messern der Dschihadisten hypnotisiert, vor seinem Bildschirm gehockt hatte.
    Ich stellte eine letzte Frage:
    »Was hast du hier vor?«
    Auf seinem Gesicht lag plötzlich etwas sehr Gequältes, eine große Traurigkeit oder eine große Gleichgültigkeit.
    »Nichts Besonderes, Khouya , dich sehen. Barcelona sehen.«
    Ich konnte nicht erkennen, ob meine Verdächtigungen ihn verletzt hatten oder ob ihn sein eigenes Schicksal traurig machte wie eine unheilbare Krankheit.

Abstand, in der Freundschaft wie in der Liebe. Bassam entfernte sich von mir; ich entfernte mich auch, gewiss – ich war nicht mehr das zurückgebliebene Kind voll kümmerlicher Träume aus Tanger; ich war auf dem Weg in mein Gefängnis, schon eingeschlossen im Elfenbeinturm der Bücher, dem einzigen Ort auf der Welt, wo sich gut leben lässt. Judit verschwand in ihrer Krankheit; ich musste übermenschliche Kräfte aufbringen, um ins Krankenhaus Clínic zu gehen, wo sie behandelt wurde; der Geruch auf den Fluren, die zynische Distanz des Personals, die scheinbare Stille in den Zimmern, die insgeheim vom Tod säuselten, erzeugten in mir eine grausame, schreckliche Angst; die kleine Leichenhalle von Cruz kam mir wieder ins Gedächtnis, die Leichen ließen mich nicht mehr los; für mich war das Krankenhaus eine riesige Totenfabrik: Frauen und Männer gingen durch die große Pforte hinein und kamen hinten wieder raus, eingegangen wie Hunde, die man hinausschleppte, um sie ein Stück weiter weg zu verbrennen, und ich wollte nicht, dass Judit starb, das durfte nicht sein. Sie teilte ihr Zimmer mit einer fünfzigjährigen
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