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Straße der Diebe

Straße der Diebe

Titel: Straße der Diebe
Autoren: Mathias Enard
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natürlich kann ich heute von meiner Gefängnisbibliothek aus einfach daran denken, da ich von der ganzen Gewissheit der Bücher, der vielen Hundert Texte umgeben bin, deren Lektüre auf mich eingewirkt hat, denn den Mann, der ich gestern war, gibt es nicht mehr; der Lakhdar aus der Straße der Diebe ist verschwunden, er hat sich verwandelt, er versucht, seinen Taten den fehlenden Sinn zu geben; er denkt nach, ich denke nach, aber ich drehe mich in meinem Gefängnis im Kreis, denn ich werde denjenigen nie mehr wiederfinden können, der ich einst war, Meryems Geliebter, der Sohn meiner Mutter, das Kind aus Tanger, Bassams Freund; das Leben ist weitergegangen seitdem, Gott hat die Segel gestrichen, das Bewusstsein hat seinen Weg zurückgelegt und mit ihm die Identität – ich bin das, was ich gelesen habe, ich bin das, was ich gesehen habe, ich habe genauso viel Arabisches wie Spanisches und Französisches an mir, ich habe mich in diesen Spiegeln vervielfacht, bis ich mich verlor oder ein neues Bild von mir entwarf, ein unbeständiges, sich wandelndes Bild. No se puede vivir sin amar, habe ich einmal zu Judit gesagt, doch ich habe mich getäuscht, man kann leben, ohne zu lieben, die Liebe ist ein Buch mehr, ein Spiegel mehr, eine Spur auf unserer Wachstafel, Abdrücke auf unseren Händen, Lebenslinien, digitale Fingerabdrücke, die auftauchen, wenn es vorbei ist, wenn alles gelaufen ist – ich freue mich, Judit wiederzusehen, einmal die Woche kommt sie hierher, wir unterhalten uns ausgiebig, wir wechseln lange Cyber-Briefe, in denen ich ihr wieder die arabische Literatur nahebringe, die unübertreffliche Schönheit Ibn Zaiduns, den gewaltigen al-Dschahiz, den traurigen al-Sayyâb, der an einer seltsamen Krankheit starb, an der allein Dichter sterben können, und ich weiß, dass Judit mich nur besucht oder mir schreibt aus Treue zu dem, was wir in jenem Hotel in Tanger, in jenem Appartement in Tunis waren, die nur für uns existieren. Ich denke noch oft an die Geschichte von Hassan dem Narren, die Ibn Battuta erzählt, als er in Mekka ist – gerne wäre ich für vierzehn Tage zu meiner Mutter zurückgekehrt oder in die Vergangenheit, um die Wochen mit Judit in Tanger oder in Tunis noch einmal zu erleben, bereit, mich dafür auf ewig im Kreis zu drehen; eines Tages kehrt vielleicht die Zeit der großartigen Narren und Bettler zurück, eines Tages, wenn das Öl versiegt sein wird und Mekka wieder eine Monatsreise zu Pferd oder mit dem Segelschiff entfernt liegt; eines strahlenden Tages, wenn ich in die neue Sonne treten und meine stumpfsinnigen Drehungen um mich selbst beenden werde, um wieder in Judits Armen zu sein.
    Bassam drehte sich ebenfalls im Kreis. Er sprach kaum etwas; er riss nur die Augen und den Mund auf, wenn sich Marias Schenkel auf ihrer Türschwelle an der Straße der Diebe öffneten; er blieb dort drei, fünf, zehn, wenn nicht gar fünfzehn ewige Sekunden stehen, sprachlos, mit hängendem Kiefer wie ein Schwachsinniger, den Blick zwischen ihren Beinen verloren, und Maria musste ihn auf den Arm nehmen oder beschimpfen, damit er endlich fluchend weiterging; ich konnte ihm, sooft ich wollte, erklären, dass es sich nicht gehörte, einfach so stehen zu bleiben und zu glotzen, dass er nur ein paar Euros lockerzumachen und mit ihr hinaufzugehen brauchte, dann hätte er alles gesehen, sie angefasst, mit ihr gevögelt und wäre gekommen, es war so einfach, aber nein, er schüttelte den Kopf wie ein Kind, dessen Hand in der Zuckerdose feststeckte, als hätte er den Teufel gesehen, nein, nein, Lakhdar Khouya , sagte er, für solche Sachen bezahlen wir nicht, und ich gab ihm eigentlich recht, man bezahlt nicht, nicht so sehr wegen des Geldes, sondern wegen der traurigen Erinnerung an den Duft des Todes bei Zahra, der kleinen Nutte in Tanger, die er nicht kannte. Dann ging er ins Restaurant zurück, um sich eine Tagine oder Spieße reinzuhauen, danach in die Moschee, er steckte die Hände in die Taschen und bespuckte Junkies und Diebe, schielte mit einer Mischung aus Verachtung und Lust nach den schwarzen Nutten, versuchte sie bei seinen Waschungen zu vergessen, betete, diskutierte mit ein paar Pakistanis, immer denselben, seinen Freunden, wie er sie nannte, dann kehrte er zurück, knallte sich vor den Fernseher, sodass Mounir, der gerade noch mitten in seinem Fußpflegeritual steckte, die Flucht ergriff – seufzend das Messer wegsteckte, sich erhob und mit einem lauten Krachen die Tür zu seinem Zimmer hinter
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