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Stout, Maria

Stout, Maria

Titel: Stout, Maria
Autoren: Der Soziopath von nebenan
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oder
schlichtweg die passende Gelegenheit. Was alle diese Individuen von uns
anderen unterscheidet, ist das gähnende Loch an der Stelle ihrer Seele, wo sich
eigentlich die am höchsten entwickelte menschliche Qualität befinden sollte.
    Für etwa
96 Prozent von uns ist das Gewissen so selbstverständlich, dass wir kaum je
darüber nachdenken. Meist funktioniert es wie ein Reflex. Falls die Versuchung
nicht gerade unwiderstehlich ist (was im Alltag zum Glück nur selten
vorkommt), reflektieren wir keineswegs jede einzelne moralische Entscheidung,
die sich uns stellt. Wir fragen uns nicht ernsthaft, "Soll ich meinem
Sprössling heute Geld fürs Schulessen mitgeben oder nicht?" "Soll ich
meinem Kollegen heute die Aktentasche klauen oder nicht?" "Soll ich
heute meinen Ehepartner verlassen oder nicht?" Das Gewissen trifft alle
diese Entscheidungen für uns, in aller Stille, automatisch und ständig, so dass
wir uns selbst in unseren kühnsten Phantasien ein Leben ohne Gewissen nicht vorstellen
könnten. Und so können wir natürlich, wenn sich jemand völlig gewissenlos
verhält, auch nur Erklärungen finden, die nicht weiter von der Wahrheit
entfernt sein könnten: "Sie muss vergessen haben, dem Kind Essensgeld zu
geben." "Sein Kollege muss seine Aktentasche selbst verlegt haben."
"Seine Frau muss unausstehlich gewesen sein." Oder wir denken uns
Erklärungen aus, die das jeweilige unsoziale Verhalten beinahe erklären
könnten, wenn man es nicht allzu genau nähme: Er ist "exzentrisch"
oder "künstlerisch" oder "sehr ehrgeizig" oder "faul"
oder "hat keine Ahnung" oder war "schon immer ein Schlawiner".
    Abgesehen
von den psychopathischen Monstern, die man im Fernsehen sieht, und deren
Untaten ohnehin zu entsetzlich für eine Erklärung sind, können wir gewissenlose
Menschen fast nie erkennen; sie sind unsichtbar für uns. Wir interessieren uns
sehr dafür, wie klug wir sind, und für die Intelligenz anderer Menschen. Das
kleinste Kind erkennt den Unterschied zwischen einem Jungen und einem Mädchen.
Wegen der Zugehörigkeit zu verschiedenen Rassen werden Kriege geführt. Aber
das möglicherweise bedeutendste einzelne Unterscheidungsmerkmal, das die
Menschheit spaltet - das Vorhandensein oder Fehlen eines Gewissens - bleibt
uns verborgen.
    Nur sehr
wenige Menschen, wie gebildet sie auch anderweitig sein mögen, kennen die
Bedeutung des Wortes soziopathisch. Und noch
viel weniger ist ihnen klar, dass sehr wahrscheinlich dieses Wort zu Recht auf
eine Hand voll Menschen angewendet werden könnte, die sie kennen. Und selbst
nachdem wir den Begriff kennen gelernt haben, ist es für die meisten Menschen
nicht möglich, sich das Fehlen eines Gewissens vorzustellen. In der Tat ist es
schwierig, sich eine Situation vorzustellen, die sich so beharrlich dem
Verständnis entzieht. Völlige Blindheit, krankhafte Depressionen, schwere
Wahrnehmungsstörungen, ein Lotteriegewinn und tausende anderer extremer
menschlicher Erfahrungen, selbst eine Psychose, können wir uns vorstellen. Wir
alle haben uns schon einmal in der Dunkelheit verlaufen. Wir sind alle schon
niedergeschlagen gewesen. Wir sind uns alle schon dumm vorgekommen, zumindest
ein- oder zweimal. Die meisten von uns haben schon einmal in Gedanken eine
Liste aufgestellt, was sie mit einem plötzlichen, unverhofften Vermögen
anstellen würden. Und des Nachts in unseren Träumen sind unsere Gedanken und
Vorstellungen verwirrt.
    Aber sich überhaupt
nicht zu scheren um die Folgen unseres Verhaltens für die
Gesellschaft, für Freunde, Verwandte, für unsere Kinder 7 . Wie, um Himmels Willen, wäre das? Was würden wir mit uns selbst
anfangen? Nichts in unserem Leben, wach oder im Schlaf, gibt uns dafür einen
Anhaltspunkt. Am nächsten kämen wir vielleicht durch die Erfahrung so großer
körperlicher Schmerzen, dass es uns vorübergehend unmöglich wäre, zu handeln
oder klar zu denken. Aber selbst unter Schmerzen existiert Schuldbewusstsein.
Ein völliges Fehlen von Schuldbewusstsein übersteigt die Vorstellungskraft.
    Das
Gewissen ist unser allwissender Zuchtmeister; es diktiert die Regeln für unser
Verhalten und verhängt emotionale Strafen, wenn wir die Regeln brechen. Wir
haben nie um ein Gewissen gebeten. Es ist einfach da, immer, wie die Haut, die
Lunge oder das Herz. Man könnte sagen, dass das noch nicht einmal unser
Verdienst ist. Und wir können uns nicht vorstellen, wie wir uns ohne Gewissen
fühlen würden.
    Das Fehlen
des Schuldbewusstseins ist auch als
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