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Stoner: Roman (German Edition)

Stoner: Roman (German Edition)

Titel: Stoner: Roman (German Edition)
Autoren: John Williams
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hörte seine Stimme fragen: »Sicher?«
    »Ich bin mir sicher«, antwortete Sloane leise.
    »Aber wie können Sie das sagen? Woher wollen Sie das wissen?«
    »Es ist Liebe, Mr Stoner«, erwiderte Sloane fröhlich. »Sie sind verliebt. So einfach ist das.«
    Und so einfach war es. Stoner merkte, wie er Sloane zunickte, irgendwas Belangloses sagte und dann das Büro verließ. Seine Lippen kribbelten, die Fingerspitzen waren taub; er ging wie ein Schlafwandler und war sich doch sehr genau seiner Umgebung bewusst, strich über die polierten holzvertäfelten Flurwände und meinte, Wärme und Alter des Holzes spüren zu können. Langsam folgte er der Treppe und staunte über den kalten, vielädrigen Marmor, der sich unter seinen Füßen ein wenig rutschig anfühlte. Die einzelnen Stimmen der Studenten in den Korridoren hoben sich jetzt deutlich vom gedämpften Murmeln ab, und die Gesichter waren nah und so fremd wie vertraut. Er trat aus der Jesse Hall auf den Campus, und das morgendliche Grau wirkte nicht länger bedrückend; es zog den Blick ins Weite und hinauf in denHimmel, sodass Stoner meinte, einer Möglichkeit entgegenzusehen, für die er keinen Namen hatte.
    *
    In der ersten Juniwoche des Jahres 1914 erhielt William Stoner zusammen mit sechzig anderen jungen Männern und einigen wenigen Damen zum Abschluss seines Studiums an der Universität Missouri den Titel eines Bachelors.
    Um bei der Feier dabei sein zu können, waren seine Eltern tags zuvor in einem geliehenen, von ihrer alten, falben Stute gezogenen Einspänner aufgebrochen, um nachts die knapp sechzig Kilometer zu den Footes zurückzulegen, wo sie steif von schlafloser Fahrt kurz nach Anbruch der Morgendämmerung eintrafen. Stoner ging hinunter in den Hof, um seine Eltern zu begrüßen. Sie standen Seite an Seite im ersten Morgenlicht und erwarteten ihn.
    Ohne sich anzusehen, gaben Vater und Sohn einander die Hand, eine einmalige, rasche Pumpbewegung.
    »Wie geht’s?«, fragte sein Vater.
    Die Mutter nickte. »Dein Pa und ich sind hergefahren, um bei deiner Abschlussfeier dabei zu sein.«
    Einen Moment lang schwieg Stoner, dann sagte er schließlich: »Kommt rein und lasst uns frühstücken.«
    Sie saßen allein in der Küche, denn seit Stoner auf dem Hof war, hatten es sich die Footes angewöhnt, lang zu schlafen. Doch weder in diesem Augenblick noch später, als seine Eltern mit dem Frühstück fertig waren, brachte er es über sich, ihnen von seinen geänderten Plänen zu erzählen und von dem Entschluss, nicht auf die Farm zurückzukehren. Ein- oder zweimal setzte er an, sah dann aber die sonnenverbranntenGesichter, die rosig und nackt aus den neuen Kleidern ragten, und dachte an die lange Fahrt, die seine Eltern zurückgelegt, an die Jahre, in denen sie auf seine Rückkehr gewartet hatten. Steif saß er da, bis sie den Kaffee ausgetrunken hatten und die Footes aufgestanden und in die Küche gekommen waren. Dann sagte er, er müsse früh zur Universität; er sähe sie ja später bei der Feier.
    Er wanderte über den Campus mit Barett und geliehenem schwarzem Talar, der schwer und hinderlich war, doch wusste er nicht, wo er ihn lassen sollte. Er dachte daran, was er seinen Eltern sagen musste, und begriff zum ersten Mal, wie endgültig seine Entscheidung war, woraufhin er sich fast wünschte, er könnte sie rückgängig machen. Angesichts des Ziels, das er sich so leichtsinnig gesetzt hatte, fand er sich mit einem Mal schrecklich unzureichend und spürte eine Sehnsucht nach jener Welt, die von ihm aufgegeben worden war. Er trauerte um den eigenen Verlust und um den seiner Eltern, aber noch in seiner Trauer spürte er, wie es ihn fortzog.
    Dieses Gefühl von Trauer legte sich während der ganzen Abschlussfeier nicht, und als sein Name fiel und er zum Podium ging, um von einem Mann, dessen Gesicht hinter einem weichen grauen Bart verschwand, seine Urkunde entgegenzunehmen, konnte er die eigene Anwesenheit kaum fassen; die Pergamentrolle in der Hand besaß für ihn keinerlei Bedeutung. Er musste nur immerzu daran denken, dass seine Eltern irgendwo in der Menge saßen, steif und unbehaglich.
    Nach der Feier fuhr er mit ihnen zu den Footes zurück, wo sie über Nacht bleiben und bei Tagesanbruch die Rückreise antreten wollten.
    Sie saßen im Wohnzimmer. Jim und Serena Foote blieben noch eine Weile mit ihnen auf. Dann und wann nannte Jim oder Stoners Mutter den Namen eines Verwandten, doch versanken sie gleich darauf wieder in Schweigen. Sein Vater saß auf
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