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Stoner: Roman (German Edition)

Stoner: Roman (German Edition)

Titel: Stoner: Roman (German Edition)
Autoren: John Williams
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beharrlich zu offenbaren trachteten.
    Er hatte keine Freunde, und zum ersten Mal in seinem Leben wurde er sich seiner Einsamkeit bewusst. Manchmal sah er abends in seiner Dachkammer von dem Buch auf, in dem er las, und blickte in die dunklen Winkel des Zimmers,dorthin, wo Lampenlicht mit Schatten spielte. Starrte er nur lange und intensiv genug, verdichtete sich das Dunkel zu einem Licht, das die flüchtigen Konturen dessen annahm, was er gerade gelesen hatte. Er konnte spüren, dass er außerhalb der Zeit existierte, und fühlte sich wie an jenem Tag im Seminar, an dem Archer Sloane mit ihm gesprochen hatte. Die Vergangenheit schälte sich aus dem Dunkel, in dem sie blieb, und die Toten erhoben sich, um vor ihm zum Leben zu erwachen; beide, die Vergangenheit und die Toten, mischten sich in die Gegenwart und unter die Lebenden, wodurch Stoner einen intensiven Moment lang eine Vision von Dichtigkeit überkam, in die er fest eingefügt war und der er nicht entkommen konnte, der er auch gar nicht entkommen wollte. Vor ihm gingen Tristan und Isolde die schoene Minne ; Paolo und Francesca wirbelten durch die glühende Dämmerung; Helena und der strahlende Paris traten aus dem Zwielicht, die Mienen bitter angesichts der Folgen ihres Tuns. Und er war auf eine Weise bei ihnen, wie er nie bei seinen Mitmenschen sein konnte, die von Seminar zu Seminar eilten, ihre Heimstatt in einer großen Universität Columbias fanden und unbekümmert im tiefsten Missouri lebten.
    Im ersten Jahr lernte er Griechisch und Latein gut genug, um einfache Texte lesen zu können; seine Augen waren oft rot und brannten vor Überanstrengung und Schlafmangel. Manchmal dachte er daran, wie er noch vor wenigen Jahren gewesen war, und ihn erstaunte die Erinnerung an diese seltsame Gestalt, braun und teilnahmslos wie die Erde, der sie entsprungen war. Dachte er an seine Eltern, schienen sie ihm beinahe ebenso seltsam wie das Kind, das sie geboren hatten, doch empfand er für sie eine Mischung aus Mitleid und verhaltener Liebe.
    Etwa gegen Mitte seines vierten Jahres an der Universität sprach ihn eines Tages nach dem Unterricht Archer Sloane an und bat ihn, zu einer Unterredung in sein Büro zu kommen.
    Es war Winter, und ein klammer Nebel hing tief über dem Campus. Noch am späten Vormittag glitzerte Raureif an den dürren Zweigen der Hartriegelbüsche; funkelnde Kristalle überzogen den die großen Säulen vor Jesse Hall hinaufrankenden schwarzen Wein und glitzerten in all dem Grau. Sein Mantel war so schäbig und verschlissen, dass Stoner beschlossen hatte, ihn trotz der Kälte nicht für den Termin bei Sloane anzuziehen. Bibbernd eilte er über den Weg und die breiten Steinstufen hinauf, die zur Jesse Hall führten.
    Nach der Kälte draußen war es drinnen richtig heiß. Das Grau von draußen sickerte durch Fenster und Glastüren auf beiden Seiten des Flurs, sodass die gelben Fliesen heller schimmerten als das Licht, das auf sie fiel; dunkel glimmten die großen Eichenpfeiler und Wischwände. Schuhe scharrten über den Boden, das Stimmengemurmel wurde von den enormen Weiten der Flure gedämpft; undeutliche Gestalten trieben langsam dahin, begegneten und trennten sich, und die betäubende Luft verströmte den Geruch geölter Wände und feuchter Wollsachen. Stoner ging die Treppe aus glattem Marmor hinauf zu Archer Sloanes Büro im ersten Stock. Er klopfte an die verschlossene Tür, hörte eine Stimme antworten und trat ein.
    Das schmale, langgezogene Zimmer wurde von einem einzigen Fenster am hinteren Ende erhellt. Mit Büchern überladene Regale reichten bis an die Decke, und neben dem Fenster stand ein zwischen die Regale gedrängter Tisch, an dem Archer Sloane saß, halb zu ihm umgedreht, eine dunkle Silhouette vor dem Licht.
    »Mr Stoner«, begrüßte ihn Sloane trocken, erhob sich halb und wies auf einen ihm gegenüberstehenden, lederbezogenen Sessel. Stoner setzte sich.
    »Ich habe mir Ihre Arbeiten angesehen.« Sloane verstummte, nahm einen Ordner vom Tisch und musterte ihn mit ironischer Reserviertheit. »Ich hoffe, meine Neugier ist Ihnen nicht unangenehm.«
    Stoner feuchtete die Lippen an, verlagerte sein Gewicht und versuchte, die großen Hände so zu falten, dass sie unsichtbar wurden. »Nein, Sir, ist sie nicht«, antwortete er mit heiserer Stimme.
    Sloane nickte. »Gut. Mir ist aufgefallen, dass Sie Ihr Studium als Student der Agrarwirtschaft begonnen haben, im zweiten Jahr aber zur Literaturwissenschaft wechselten. Ist das
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