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Stoner: Roman (German Edition)

Stoner: Roman (German Edition)

Titel: Stoner: Roman (German Edition)
Autoren: John Williams
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weißes Hemd mit schmaler Krawatte, die Handgelenke ragten aus den Jackenärmeln hervor, und die Hose schlotterte ihm um die Beine, als gehörte sie zu einer Uniform, die zuvor von jemand anderem getragen worden war.
    Mit der zunehmenden Gleichgültigkeit seiner Verwandten wuchs die Zahl seiner Tätigkeiten auf der Farm; außerdem verbrachte er lange Abende auf dem Zimmer damit, seine Universitätsaufgaben methodisch abzuarbeiten. Er hatte den Studiengang begonnen, der mit einem Bakkalaureat in Naturwissenschaften abgeschlossen wurde, und musste während des ersten Semesters seines zweiten Studienjahreszwei Grundkurse in Naturwissenschaft belegen, einen Kurs in landwirtschaftlicher Bodenanalyse sowie einen Kurs, der für alle Studenten vorgeschrieben war, obwohl ihm keine besondere Bedeutung beigemessen wurde – eine Einführung in die englische Literatur.
    Schon nach wenigen Wochen hatte er mit den Kursen in Naturwissenschaft kaum noch Probleme, obwohl es so viel zu tun gab, so vieles, was er sich merken musste. Der Kurs in landwirtschaftlicher Bodenanalyse weckte auf eine eher allgemeine Weise sein Interesse, da ihm noch nie der Gedanke gekommen war, dass jene bräunlichen Klumpen, die er nahezu sein Leben lang bearbeitet hatte, etwas anderes als das sein könnten, was sie allem Anschein nach waren, und er begann zu ahnen, wie seine wachsende Kenntnis von Nutzen sein würde, wenn er denn erst einmal zur Farm des Vaters zurückgekehrt war. Nur der vorgeschriebene Einführungskurs in die englische Literatur verstörte und beunruhigte ihn auf eine Weise wie nichts zuvor.
    Der Dozent, ein Mann gesetzteren Alters, Anfang fünfzig, Archer Sloane mit Namen, ging seinem Lehrauftrag offenbar nur widerwillig und mit scheinbarer Geringschätzung nach, so als registriere er zwischen seinem Wissen und dem, was er vermitteln konnte, eine derart profunde Kluft, dass sich keinerlei Mühe lohnte, sie schließen zu wollen. Bei den meisten seiner Studenten war er gleichermaßen gefürchtet wie unbeliebt, worauf er amüsiert und mit ironischer Distanz reagierte. Archer Sloane war ein Mann mittlerer Größe mit langem, zerfurchtem, glatt rasiertem Gesicht, der die Angewohnheit besaß, sich mit den Fingern ungeduldig durch die graue, lockige Haarmähne zu fahren. Seine Stimme klang flach und trocken, drang über sich kaum bewegende Lippen,die ihr weder Gefühl noch Betonung verliehen, doch die langen, schlanken Finger bewegten sich mit einer Anmut und Überzeugung, als wollten sie den Worten zu einer Ausdruckskraft verhelfen, die seine Stimme ihnen nicht geben konnte.
    Wenn Stoner seinen Pflichten auf der Farm nachging oder in der fensterlosen Dachkammer im Dämmerlicht der Lampe blinzelnd seine Bücher studierte, gewahrte er oft, wie das Bild dieses Mannes vor seinem inneren Auge auftauchte. Obwohl es ihm keineswegs leichtfiel, das Gesicht eines anderen Dozenten aufzurufen oder sich an etwas Besonderes aus einem der übrigen Seminare zu erinnern, wartete an der Schwelle seiner Wahrnehmung stets die Gestalt von Archer Sloane auf ihn, seine trockene Stimme und seine so verächtlich wie beiläufig vorgebrachten Worte über irgendeinen Passus in Beowulf oder über einige Verse von Chaucer.
    Er spürte, dass er mit dem Einführungskurs nicht wie mit den anderen Kursen zurechtkam. Obwohl er sich an die Autoren und ihre Werke erinnerte, an Daten und Einflüsse, hätte er den ersten Test fast verpatzt, auch mit dem zweiten erging es ihm nicht viel besser. Er las die Bücher, die auf der Leseliste standen, und las sie so oft wieder, dass die Arbeit für die übrigen Kurse darunter zu leiden begann, dennoch blieben, was er las, nur Worte auf dem Papier, und er begriff nicht, welchen Sinn sein Tun hatte.
    Also grübelte er über das, was Archer Sloane im Unterricht sagte, als könnte er hinter den im flachen, trockenen Ton vorgebrachten Worten einen Hinweis entdecken, der ihn dorthin führte, wohin er zu gehen hatte. Stoner beugte sich über das Pult seines Schreibstuhls, der zu klein für ihnwar, um bequem darauf sitzen zu können, und umklammerte die Tischkanten mit so kräftigem Griff, dass die Knöchel weiß unter der braunen, ledrigen Haut hervortraten; dabei runzelte er konzentriert die Stirn und biss sich auf die Unterlippe. Doch je verzweifelter Stoner und dessen Mitstudenten sich anstrengten, desto erbarmungsloser wurde Archer Sloanes Verachtung. Einmal aber steigerte sich diese Verachtung zu heller Wut und richtete sich allein gegen
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