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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Autoren: Laura Brodie
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Kopfbewegung über die Wangen strichen.
    Der rosa Baldachin hatte das Ende ihrer Grundschulzeit allerdings nicht überlebt und war durch Johnny-Depp-Poster ersetzt worden, sodass nun von der Decke über ihrem Bett Edward mit den Scherenhänden auf Maggie heruntersah.
    »
Das
würde mir Albträume bescheren«, hatte ihr Vater schaudernd gesagt, als sie das Poster anbrachte. Er hatte neben Maggie auf der Bettdecke gelegen und den jungen Mann mit dem wirren Haar und dem dunklen Lippenstift eingehend betrachtet, dessen traurige Augen nun also die ganze Nacht auf seine Tochter herabsehen sollten. Von der Zimmerwand gegenüber spähte anzüglich Sweeney Todd unter einer Frisur hervor, die der Braut Frankensteins würdig gewesen wäre, während sich Jack Sparrow einen mit schweren Ringen bestückten Zeigefinger an die Lippen legte. Rob seufzte. Was faszinierte seine Tochter nur so an diesen Dragqueen-Gestalten? Schon seltsam, dass ein Mädchen, das sich nie schminkte, bei einem Mann mittleren Alters so viel Eyeliner tolerierte.
    »Johnny Depp ist cool«, erklärte Maggie. »Wenn der in meinen Träumen auftauchen würde, wären das bestimmt ganz
wundervolle

    Und sie hatte sich auf die Matratze gestellt und Edward mit den Scherenhänden noch mit Tesafilm einen Traumfänger andie Brust geklebt, auf dass das über ihrem Bett baumelnde Band ihr Herz mit dem von Johnny verbinden möge. Seither hatte sich der Traumfänger jede Nacht langsam gedreht, mal rechtsherum und mal links, wie eine Wetterfahne, die auf den barometrischen Druck ihrer Wünsche reagierte.
    Aber dieses Ding aus Band und Federn hatte die Albträume natürlich nie daran gehindert, sie im Schlaf heimzusuchen. Und deshalb hatte ihr Vater Maggie vor neun Jahren zu einem Arzt gebracht, den er ihr mit den Worten vorstellte: »Er ist ein lebender Traumfänger.« Dieser Arzt würde ihre Erinnerungen am helllichten Tag so filtern, dass sie sich nachts nicht mehr in ihren Schlaf schleichen würden, hatte er ihr erklärt. Und Maggie musste zugeben, dass der Mann von seinem Beruf wirklich etwas zu verstehen schien. Als sie in der ersten Grundschulklasse war, begannen ihre Träume allmählich zu schwinden, bis ihre wöchentlichen Therapiestunden auf eine im Monat reduziert wurden, und dann sogar auf eine jedes Vierteljahr. In den letzten fünf Jahren hatten sie den Arzt gar nicht mehr aufgesucht.
    Doch jetzt waren die Albträume wieder da, und deshalb saß Maggie wieder hier auf dieser Couch und durchforstete ihre Vergangenheit, während der Arzt mit leiser Stimme, wie durch einen weichen Vorhang hindurch, mit ihr redete.
    »Erzähl mir, wie es dann weiterging.«
    »Sie haben den Traum doch schon hundertmal gehört.«
    »Erzähl ihn mir noch einmal.«
    Maggie fühlte sich an die Kinder erinnert, deren Babysitter sie war und die auch dieselben Gutenachtgeschichten wieder und wieder hören wollten. Vor allem die grausamen   – mit Hexen, Wölfen und blutrünstigen Ungeheuern, die ganz wild waren auf das Fleisch kleiner Kinder.
    Aber Maggie hatte keine Lust, ihren Traum zu erzählen, und betrachtete stattdessen ihre Fingernägel, die bis zu den blutenden Nagelrändern hin abgekaut waren. Letzte Woche noch waren sie lang und rot angemalt und mit schwarz-weißenYin-Yang-Symbolen verziert gewesen, doch jetzt waren sie kurz und abgesplittert. Sie ballte die Hände zu Fäusten, verschränkte die Arme vor der Brust und ließ ihren Blick die cremeweißen Wände entlangschweifen, mit den Diplomen, die sie schon als Kind, Buchstabe für Buchstabe, studiert hatte. Kenneth David Riley. Swarthmore College, Columbia University New York, University of Virginia. Bachelor, Master, Doktor. Die akademischen Titel klangen wie Rollen in einem Sexspiel, und Maggie überlegte, dass es an ihr war, den Part der jungen Gespielin zu übernehmen, der Sklavin, der bis auf die Haut nackten Patientin.
    Sie hatte nichts dagegen. Als Maggie letzte Woche nach all den Jahren ohne Kontakt wieder zu dem Arzt gekommen war, hatte sie etwas bemerkt, das ihr als Grundschulkind nicht aufgefallen war   – nämlich dass Dr.   Riley ein gut aussehender Mann war, dunkelhaarig, mit tiefblauen Augen und muskulösen Unterarmen, die sich anspannten, wenn er sich die Hemdsärmel hochkrempelte, was immer ein Anzeichen dafür war, dass sie in der Therapie auf etwas Ernstes zu sprechen kamen. Er war genau Maggies Typ   – oder jedenfalls bildete sie sich das ein   –, ruhig, intellektuell und von attraktiv
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