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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Autoren: Laura Brodie
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»Na, komm schon, komm raus, wo immer du auch steckst.« Als er an den Waldrand herantrat, erkannte Maggie, dass ihr Nachthemd sie verraten würde. Durch dieÄste drang genug Mondlicht, um die weiße Baumwolle aufleuchten zu lassen, und dem Jungen würde die schimmernde Stelle unter den Baumkronen sicher nicht entgehen. Er hob einen seiner dicklichen Arme und schob einen Zweig beiseite. Dann starrte er mit einem leichten Lächeln genau in ihre Richtung. »Na, was sehen meine Augen denn da   …«, murmelte er leise.
    Es war ein Gefühl wie in einem jener Momente, wenn ein Mensch und ein Reh sich im Wald begegnen und beide, Mensch und Tier, vor Schreck erstarren und einander in die Augen sehen. Und dann macht das Reh einen Satz und rennt, den Blick auf sein weißes Hinterteil freigebend, davon. Es war Maggie, die da zwischen den Bäumen wegrannte und nur ein Aufblitzen ihres hellen Nachthemds zurückließ.
    »Ist er hinter dir hergelaufen?«, fragte der Arzt.
    »Keine Ahnung. In dem Moment bin ich aufgewacht.«
    »Und in der Realität ist er nie hinter dir hergelaufen?«
    Maggie zuckte die Achseln und sah aus dem Fenster auf den Ahornbaum hinaus, der sich im Oktoberwind wiegte. Für die Realität interessierte sie sich nicht allzu sehr, weshalb auch so viele der Bücher, die sie zu Hause geradezu verschlang, mit Drachen, Zauberern und Dämonen angefüllt waren. J.   R.   R.   Tolkien, Joanne K.   Rowling, Philip Pullman   – sie alle wussten, dass Fantasy keine Flucht war, sondern vielmehr eine Linse, durch die man die Welt schärfer sehen konnte.
    »In der
Realität
haben die Studenten überhaupt nicht nach mir gesucht. Und ich weiß nicht, ob sie gesehen haben, dass ich über die Wiese gelaufen bin. Sie sind einfach in ihr Auto gestiegen und weggefahren.«
    »Und du bist im Wald geblieben?«
    Ja. Sie war im Wald geblieben.
    »Wie hat sich das angefühlt?«
    So eine dämliche Frage. Was glaubte er wohl, wie sich das angefühlt hatte? Wie sollte es sich schon anfühlen für einevöllig verängstigte Fünfjährige, die sich allein im dunklen Wald versteckte? Ja, nicht mal allein   – sondern umgeben von Opossums, Füchsen und Stinktieren, die um sie herumschlichen, sie aus dem Dunkel mit gefletschten Zähnen anstarrten. Aber es waren nicht die Tiere gewesen, die Maggie in jener Mainacht gefürchtet hatte. Viel größere Angst hatte sie vor den Schattendämonen gehabt, jenen gestaltlosen Ungeheuern, die durch die Wände hindurch in ihr Zimmer eindrangen, wie sie sich oft vorstellte, und am Fußende ihres Bettes standen, sich als Kommode tarnten oder als Jacke über einem Stuhl. Als sie sich dort im Wald versteckte, hatte sie gespürt, wie diese Ungeheuer aus den Baumwipfeln herabstiegen, die Luft mit ihrem schweren Atem füllten und sich ihr bedrohlich näherten. Und so hatte sie sich, angelehnt an eine zehn Meter hohe Esche, auf den Waldboden gekauert, die Stirn auf die angezogenen Knie gelegt und Sophie ganz fest an die Brust gedrückt.
    Wie sich das angefühlt hatte? So als würde jede einzelne Faser ihres Körpers schreien. Doch sie hatte nicht gewagt, auch nur einen Laut von sich zu geben.
    »Unheimlich«, sagte Maggie laut und sah dem Arzt in die Augen. »Es hat sich unheimlich angefühlt.«
    Nichtssagende Adjektive waren die beste Verteidigung, wenn das Gespräch zu schmerzhaft zu werden drohte. Wie aufs Stichwort ließ Dr.   Riley dann jedes Mal vom Thema ab, und auch heute fand Maggie ihn wieder so gehorsam wie immer.
    »Du hattest letzten Freitag Geburtstag.«
    »Ja«, sagte Maggie. »Ich bin jetzt fünfzehn.«
    »Hast du irgendwie besonders gefeiert?«
    Maggie lächelte. »Mein Dad hat mir erlaubt, einen Tag schulfrei zu machen, und wir sind auf die Jump-Mountain-Hütte gefahren. Wir waren zwei Tage lang in den Bergen wandern und Kanu fahren.«
    »War es schön?«
    »Klar, richtig schön. Vor allem, dass ich nicht zur Schule musste.«
    Der Arzt hielt einen Moment inne. »Wie läuft es denn in der Schule?«
    Maggie zuckte die Achseln. »Schule ist Schule, da ändert sich nicht viel.«
    »Die Highschool ist schon noch mal ein großer Schritt, findest du nicht?«
    Sie seufzte. »Das Gebäude ist riesig, und es sind viel mehr Leute dort. Aber letzten Endes läuft es doch alles aufs Gleiche raus: Klassenzimmer und Klausuren, eine Cafeteria, Sportunterricht. Der gleiche Ablauf wie vorher auch, nur mehr Hausaufgaben und sehr viel mehr Gerenne von Klassenzimmer zu Klassenzimmer.«
    »Was hältst du von
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