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Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht

Titel: Stimmen in der Nacht - Brodie, L: Stimmen in der Nacht
Autoren: Laura Brodie
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grüblerischem Wesen. Wäre er zwanzig Jahre jünger gewesen, hätte er gut in den ›Twilight‹-Filmen mitspielen können, sein blasser Teint, das kantige Kinn und die markanten Wangenknochen waren wie geschaffen dafür.
    Setzen Sie sich doch neben mich,
hätte sie gern zu diesem liebenswürdigen Arzt gesagt.
Legen Sie Ihren Kopf in meinen Schoß, dann werde ich Ihnen meine Träume ins Ohr flüstern.
Ihr Blick blieb an seinen langsam grau werdenden Schläfen hängen, und sie seufzte. Wie schade. Sterblichkeit war doch etwas Schreckliches.
    Der Arzt wartete, bis Maggies Blick über sein Gesicht geglitten war. Dann sah er ihr direkt in die Augen. »Es hilft, den ganzen Traum zu schildern«, sagte er.
    Maggie lächelte erbittert. Den ganzen Traum. Die ganzeWahrheit, und nichts als die Wahrheit. Das war es, was sie alle von ihr wollten   – einen Haufen grausamer Wörter   –, weil sie das Mädchen mit der Geschichte war, die Zeugin eines Mordes, der sie in seltsamen, verzerrten Träumen immer wieder heimsuchte, sodass es schwierig war zu sagen, wie viel davon real und wie viel Albtraum war.
    Maggie hatte nie jemandem die ganze Wahrheit erzählt. Als sie fünf war, hatte sie sich sogar standhaft geweigert, überhaupt etwas zu sagen. Sie hatte kein einziges Wort für die Polizei erübrigt, ja nicht einmal für ihren Vater, und aus dem Abstand von neun Jahren war es schwierig zu sagen, was genau sich in ihrem Vorschulhirn abgespielt hatte, abgesehen von dem vagen Eindruck, dass die Erwachsenenwelt einen Verrat an ihr begangen hatte und ihr Schweigen ein Reinigungsritual war.
    Teil von Dr.   Rileys Aufgabe war gewesen, die Geschichte freizulegen, all die zerborstenen Splitter zu bergen, die sie zu vergraben suchte. Der Arzt war spezialisiert auf traumatisierte Kinder, meistens Mädchen, die in der Familie missbraucht worden waren   – geschlagen, vergewaltigt, in Wandschränke eingesperrt   – und deren Körper bis auf die spindeldürre Gestalt einer Harfensaite abgemagert waren. In seinem Sprechzimmer stand eine Holztruhe voller Stofftiere, die nach Zedernholz rochen, und in den Regalen waren, außer Büchern und Farnen, ein Puzzle, ein Teeservice und Schachteln mit Spielknete zu finden, so als hätte der Arzt seine eigene Kindheit nie ganz aufgegeben.
    In der Anfangszeit bestand seine Methode darin, mit viel Spielzeug, Buntstiften und jeder Menge scheinbar harmloser Fragen vorzugehen: »Warum brennt das Haus?« und »Was denkt der Eisbär?« Monatelang hatte Dr.   Riley jedes noch so kleine Fragment, das Maggie äußerte, jeden Splitter der Erinnerung gesammelt, als wäre diese ein kostbares Fossil, etwas, das abgestaubt, inspiziert und aus all den Teilen wieder zusammengesetzt werden musste, bis das ganze Skelett diesereinen Nacht rekonstruiert war. Im Laufe von zwei Jahren hatte er so viele Wörter von ihr zusammengetragen, dass er schließlich einen vollständigen Brustkorb, einen Schädel und ein Rückgrat beisammenhatte. Alles das, was zurückbleibt, wenn die Seele geflohen ist.
    Aber wie bei allen Rekonstruktionen konnte der Arzt auch hier nur einen begrenzten Anteil an Beweisen sammeln   – ein Kieferknochen hier, ein Wirbel dort   –, der Rest war zwar wohlbegründet, doch Spekulation, und Maggie war stolz, nicht alles verraten zu haben. Sie wusste, dass der Arzt von einigen falschen Annahmen ausging, doch sie hatte es nicht eilig, ihn aufzuklären. Es lag eine Macht darin, die Schlüsselelemente ihres Puzzles zurückzuhalten   – auf diese Weise würde dieser gut aussehende Mann sich auch weiterhin für sie interessieren. Und dann war da noch der wesentliche Aspekt ihrer Privatsphäre. Selbst als Vorschulkind hatte Maggie schon gewusst, dass man manche Erinnerungen besser mit niemandem teilt.
     
    »Bleib hier, Maggie.« Dr.   Riley hatte seiner Stimme einen tiefen, einschmeichelnden Ton gegeben. »War das, als die Studenten sich auf die Suche nach dir machten?«
    Ja. Von ihrer Stelle fünfzehn Meter tief im Wald konnte Maggie sie über die Wiese näherkommen sehen, und der dicke Junge rief: »Hey, kleines Mädchen   … Komm raus. Wir tun dir nichts.«
    Seine Stimme klang unerträglich süßlich, so als könnte er Freundlichkeit nicht einmal vortäuschen.
    Dann sagte das Mädchen, das bei ihm war, etwas. Ihr Gesicht war bleich und ihre Stimme zitterte. »Ich will hier weg   … Lass uns endlich abhauen. Bitte.«
    Der Junge ignorierte sie. Wieder spähte er in den Wald hinein und lockte:
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