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Stillmanns Münzen (German Edition)

Stillmanns Münzen (German Edition)

Titel: Stillmanns Münzen (German Edition)
Autoren: Christian Sidjani
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gegessen hat. Keiner sagt mehr 'Danke', es gehört dazu, so wie Michael zum Kino. Aber Michael möchte auch nichts von seinen Kollegen hören. Er ist nur froh, dass alles so ist, wie es ist.
    Dieser Donuttag wird der letzte sein, der sich für ihn so 'normal' anfühlt. Das weiß er noch nicht an jenem Morgen (für ihn ist es Morgen, für die geregelt Arbeitenden ist es früher Nachmittag). Überhaupt 'Normalität', sie ist ihm sehr wichtig. Er kann sich auf sie verlassen. Wenn A heute geschieht, dann wird auch B geschehen. Eine einfache Abfolge von Resonanzen, wie Bilder in Sekunden, die ihre Ordnung haben, damit ein Film von Anfang bis Ende nach den Wünschen des Regisseurs erzählt werden kann.
    Es muss der Donuttag sein, der alles verändert. Und so kommt es, dass später ein Zuckergebäck übrig bleibt, obwohl alle Mitarbeiter eins nahmen. Michael überprüft es im Geiste. Steffen, Bodo, Marcel, Tini und André, die Clique der Fünf hinter dem Tresen, greifen sich immer Schoko-Donuts. Sie essen zusammen, sie trinken zusammen, sie hängen nur miteinander rum, und auch heute schließt ihre Kommunikation ein ,Danke' an Michael aus. Die fünf sind wie eine Anti-These der sozialen Gruppe, und sie genießen Schutz durch ihren sechsten Verbündeten, André Nummer zwei, aus der Theaterleitung, der sich ganz selbstverständlich das sechste Gebäck mit Schokolade einverleibt. Bleiben sechs übrig, denkt Michael, denn Ralf griff schon als erster zu (einen mit Zucker). In der Pappschachtel liegt aber ein Gebäck mit dem Loch, das an einer Stelle eine Beule hat, als wäre es nicht richtig gerundet worden. Glasur, Zuckerguss, und da fällt es ihm ein. Ihm wurde der Donut geschenkt, weil er doch jede Woche kaufte und einer übrig war. Doch wohin mit ihm? Essen mag Michael ihn nicht. Ihm wird sogar schlecht von zu viel Zucker, was ich von mir nicht behaupten kann. So legt er ihn zunächst in zwei Servietten und nimmt ihn zum Schichtbeginn mit an den Einlass, zum kleinen Pult, das für die nächsten sieben Stunden der Mittelpunkt seiner kleinen Welt sein wird.
    Maria und David, das spanische Geschwisterpaar, erwarten ihn schon, zum Putzen der Säle, zum Säubern des Foyers für die nächsten Vorstellungen und die nächsten Kunden. Dann denkt er, dass er den Donut einem Kunden schenken wird, jemandem, den er besonders findet, nicht sympathisch oder gut aussehend, sondern einem, der aus der ewig gleichen Masse heraus sticht, und während er fegt und Müll sammelt, überlegt er sich, wie er den Mann, ja, es wird ein Mann sein, ansprechen wird, ohne dass es komisch wirkt. Er wird nicht rufen, sollte der Mann weiter entfernt sein, in der langen Schlange zum Popcorn-Verkauf anstehend, nein, er muss nicht rufen. Wenn er seine Karte abreißt, wird er es tun. Fast beiläufig wird er ihm den Donut für die Vorstellung anbieten und der Mann wird ihn annehmen, ganz selbstverständlich, als ob es zum Kinobesuch gehört.
    Michael glaubt zu wissen, dass der Mann sich vorher gar nichts kaufen wird, darum wird er sehr dankbar sein, sich vielleicht erkenntlich zeigen. Und Michael fragt sich, warum er sich so viele Gedanken darüber macht und es ihm so viel bedeutet, den Donut heute weiterzugeben; und als er sich das fragt, sind die Kinosäle geputzt und der Einlass für die nächste Vorstellung beginnt.
    Ich möchte diese Szene, sollte ich sie einmal ausführlicher beschreiben, unbedingt so wirken lassen, als wären seine Gedanken eine Vorahnung. Als wüsste Michael, dass dieser Donuttag ein ganz besonderer ist und die erste Münze, die er fand, scheint daran nicht unschuldig zu sein. Wenn ich schreibe, dass er die zweite Münze findet, stimmt das nicht ganz, aber ich weiß nicht, wie ich es sonst beschreiben soll, vielleicht, dass die Münze ihn findet, als wüsste sie, wohin sie reisen muss, um wieder zur ersten Münze zu gelangen. Sie bedient sich daher des Mannes, dem Michael tatsächlich begegnen wird, als ein Transportmittel. Die Münzen gehören zusammen und beide haben einen langen Weg hinter sich.
    Michael steht also am Einlass, und die Schlangen an dem Verkaufstresen für Popcorn und Nachos werden länger und länger. Was folgt, ist die Acht-Uhr-Vorstellung, der sogenannte 'Main Walk' beginnt. Während Michael fleißig Karten abreißt, immer und zu jedem ,Hallo' und ,Viel Spaß' sagt, sind seine Gedanken bei dem Mann, den er treffen möchte. Und je mehr und je länger er an diese ausgedachte Begegnung denkt, desto klarer entsteht ein
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