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Stillmanns Münzen (German Edition)

Stillmanns Münzen (German Edition)

Titel: Stillmanns Münzen (German Edition)
Autoren: Christian Sidjani
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Tages durch meine Tür und erzählte mir, was ich aufschreiben sollte. Ich lag auf meinem Bett und betrachtete die Klinke, eigentlich starrte ich ins Leere. In meinem Kopf wurde die Klinke hinunter gedrückt, die Tür geöffnet, und Kälte betrat den Raum. Schwarze Kutte, goldener Schein, ein Lächeln in der Unsichtbarkeit. Er stellte sich vor mein Bett und sprach leise, weniger als ein Flüstern, aber ich verstand ihn gut, weil er direkt in meinem Kopf sprach:
    „Du bist auserwählt.“
    Ich habe das nie jemandem erzählt. Irgendwann würde ich wohl darauf hinweisen müssen, dass der Tod, obwohl er scheinbar eine Einbildung war, mein ständiger Begleiter wurde. Der Tod fasziniert mich, als Symbol, als Figur, aber mehr noch als Gesprächspartner. Er war und ist bereit, mir seine geheimsten Seiten anzuvertrauen. Ich schreibe sie nur auf. So kam und kommt es nicht selten vor, dass der Tod mich auch im Kino begleitet, mir über die Gäste das wichtigste Geheimnis offenbart, das zu kennen mich ehrt.
    Zu wissen, wann sie sterben.
    Wie im Wahn schreiben, nenne ich das. So ist es immer, wenn er mir seine Geschichten diktiert. Aber nein, ich nenne das nur diktieren, es fühlt sich an, als wäre ich sein Instrument, dem er sich bedient. Sie sehen aus wie meine Worte, wenn ich sie schreibe, und es ist meine Schrift. Aber das bin ich nicht, denke ich immer. Seit der ersten Geschichte halte ich das für eine Tatsache: Ich bin es nicht, der so schreibt.
    Kontrolle über die Figuren habe ich auch nicht, hatte ich nie. Aber so werden mir auch diese Entscheidungen abgenommen; was sie tun oder nicht tun, was sie sagen oder nicht sagen. Ehrlich gesagt: Das bedauere ich nicht.
    Es ist nicht so, dass er neben mir sitzt und tatsächlich Worte ins Ohr flüstert, die ich in Steno dann niederschreibe. Unter seinem Einfluss schreibe ich wie jetzt, Worte auf das Papier. Aber es fühlt sich nicht an, als dass es von mir kommt.
    Sicher, in meinem Leben habe ich etliche Horrorfilme gesehen und ihre Geschichten und Themen setzten sich bestimmt in meinem Unterbewusstsein fest, doch da ist noch etwas anderes in mir. Die Geschichten, die ich erzähle, kenne ich selbst zuvor nicht. Sie rauschen an meinem geistigen Auge vorbei, wie die Leute es sich erzählen, dass es bei Sterbenden stattfindet, bevor ihr Bewusstsein in Schwärze schwindet. Ja, meine..., seine Geschichten sind wie von einem, der bald stirbt.  
    Und dann ist er da. Immer, wenn ich sie aufschreibe. Sein Antlitz mag eingebildet sein, aber in jener Nacht sah ich ihn. Die Tür ging wirklich ohne mein Zutun auf. Ich lag ja auch im Bett. Jedenfalls erinnere ich das alles so. Er hat mich auserwählt. Für irgendetwas muss mein Leben doch einen Sinn haben, oder nicht? Wenn ich in diesem System keinen Sinn sehe, so doch wenigstens in den Geschichten, die vom Tod anderer handeln.
    Das tun sie immer. Vom Tod eines Menschen handeln. Mal sind es Fremde, dann sind es Menschen, denen ich begegne. Ich lasse ihr Leben Revue passieren, die wichtigsten Stationen davon, und dann sterben sie. In dieser Weise habe ich Dutzende Geschichten auf meinem Notebook geschrieben, bis ich vor Jahren mit dem Schreiben per Hand begann. In der Nähe zum Wort vermag ich nun die Diktate noch treffender wiederzugeben. So füllte ich bisher dreiundvierzig Notizhefte. Es mögen insgesamt drei- oder vierhundert dieser Kurzgeschichten sein. Wie andere über meine Passion urteilen würden, male ich mir nicht aus. Ich zeige sie keinem mehr.
    Bisher ist noch keiner an dem Tag oder zu der Zeit gestorben, die ich und er für denjenigen vorher gesagt haben. Es sind doch nur Geschichten. Ja, mein Gott, der Tod ist ausgedacht und ich leide an einer populären Schizophrenie; ist das nicht öfters der Fall bei Schriftstellern? Doch es kam vor, dass ich vom Tod eines Menschen schrieb und er auch wirklich eintrat.
    Zwei Abende bevor ich sein Foto in einer Zeitung sah, unter der Überschrift für einen Suizid-Artikel, war ein Mann bei mir im Kino gewesen. Ich verabschiedete ihn sogar, als er an mir vorbei ging. Er drehte sich zu mir, verabschiedete sich ebenfalls, als der Tod zu mir sprach:
    „Er wird sterben. Schreib über ihn!“
    Noch in derselben Nacht verfasste ich eine Kurzgeschichte über seine verstorbene Familie, dem jahrelangen Trauern und einer Großpackung starker Schmerzmittel. Ein klassischer Abgang aus dem Leben.
    Es war ein Klischee, dessen ich mich nicht nur bediente, weil der Tod es mir diktierte. Ich habe selbst
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