Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stillmanns Münzen (German Edition)

Stillmanns Münzen (German Edition)

Titel: Stillmanns Münzen (German Edition)
Autoren: Christian Sidjani
Vom Netzwerk:
Leben, da waren wir gerade achtzehn geworden, und kein Arsch interessierte das, außer die Angehörigen natürlich. Es gab Anzeichen, aber in meiner post-pubertären Dummheit sah ich sie nicht. Und ich regte mich auf, dass nichts darüber in der Zeitung stand. Ich dachte irgendwie, Reporter würden mich befragen und ich könnte berichten, wie missverstanden er gewesen war, aber nichts, keine zehn Zeilen unter der Rubrik Lokales. Martin wurde vom Antlitz dieser Welt radiert. Bist du kein Körper mehr, bist du gar nichts mehr. Ich bin nun der Letzte, der ihn erinnert. Seine Angehörigen sind alle verstorben, allerdings eines ,normalen' Todes, was auch immer das heißen mag.
    Den zweiten Selbstmord – ja, es gab mehrere in meinem Leben, die ich aus der Nähe, emotional oder körperlich, erfuhr. Eigentlich sind es drei, und zum dritten komme ich gleich. Er ist auch der Grund dafür, dass ich heute schreibe – den zweiten Selbstmord, den sah ich aus nächster Nähe. Ein mir Unbekannter stürzte sich von einer Bahnbrücke auf ein fahrendes Auto, prallte ab und landete kopfüber auf dem Asphalt.
    So viele riefen durcheinander, ,Ist er tot?!' und ,Oh, mein Gott!', aber ich hatte genug gesehen. Ich wollte es gar nicht sehen, aber das Schicksal zwang mich. Naiv wie ich war nahm ich an, über ihn am nächsten Tag in der Zeitung zu lesen. Aber nein, er war nicht berühmt gewesen.
    Also ausgeblendet.
    Das war vor sechs Jahren gewesen. Und vor zwölf Jahren verstarb mein Freund Martin. Es scheint ganz so, als ob ich alle sechs Jahre an unsere Sterblichkeit erinnert werden soll, an unser fragiles, psychisches System. Denn jetzt ist es kaum eine Woche her, es muss letzten Samstag gewesen sein, dass ich von einem weiteren Selbstmord erfuhr.
    Ein Kollege von mir, Michael, hat sich von einem Hochhaus gestürzt, dem mittleren Turm des Mundsburg-Centers. Von eben jenen Turm, den wir Raucher im Blick haben, wenn wir auf dem Balkon Zigaretten qualmen. Dann können wir uns an die Balustrade lehnen und die Stockwerke hinauf blicken. Ich glaube, es sind mehr als fünfundzwanzig.
    Früher haben wir manchmal Scherze gemacht: Die Mundsburg-Türme – wieder drei an der Zahl, wie meine Selbstmorde – eignen sich besonders gut zum Springen, weil sie so zentral und leicht erreichbar sind. Uns allen wird der Tag, an dem Michael sprang, für immer in Erinnerung bleiben, besonders Christian, unserem Theaterleiter, der in seinem Büro, bei geschlossenem Fenster, das Klatschen, das den Aufprall begleitete, vernommen hatte.
    Später erzählte er, dass er auf den Balkon ging und in der kleinen Sackgasse, die zwischen dem mittleren Tower und einem Parkhaus liegt, neben den Mülltonnen eine Gestalt liegen sah. Und er dachte noch, das Hemd, das sie trug, hatte dieselbe Farbe wie unsere Shirts, die wir stets auf der Arbeit anziehen müssen (lila, mit Logo).
    Ein Polizist informierte uns später, dass Michael Martens der Springer gewesen war. Und keinem von uns war mehr ein Lächeln möglich, nicht für Kunden, nicht für uns. Ja, niemand redete mehr viel an diesem Tag und die Stille beim Mittagessen erinnerte an den obligatorischen Leichenschmaus.
    Weder am Sonntag noch am darauf folgenden Montag fand sich ein Bericht, wenigstens ein kleiner Artikel in der Zeitung. Ich kaufte mir sämtliche lokale Blätter, um sicher zu gehen, und recherchierte sogar online, aber Michael war jetzt gelöscht worden. Ich weiß nicht einmal, ob er noch Familie hat, Geschwister vielleicht. Ich sah ihn immer allein. Nur für eine kurze Zeit hing er mit Melena herum, aber das ist auch schon einige Monate her.
    Makaber wurde es, als man uns mitteilte, dass nun auch sein Spind geleert werden musste. Da sich niemand gemeldet hatte, um seine Sachen zu holen. Niemand kannte Michael näher, wurde uns bewusst, und nun sollten alle Dinge von ihm weggeschmissen werden. Er würde sozusagen gelöschter als gelöscht.
    Als wir das Notizheft fanden, in das ich gerade schreibe, bat ich darum, es lesen zu dürfen. Es war zu einem Drittel beschrieben worden und ich erklärte, dass es vielleicht nicht nur Aufschluss über seinen Selbstmord geben konnte sondern auch eine Art Tribut für ihn werden. Etwas, das man hat, um einen Gestorbenen nicht zu vergessen. Ich bot an, was auch immer er geschrieben hatte, abzutippen und den anderen zugänglich zu machen, so eine Art Trauerarbeit. Aber es war eigentlich die Neugierde, die mich trieb, und der Heißhunger auf Sensationen, den anscheinend alle in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher