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Stillmanns Münzen (German Edition)

Stillmanns Münzen (German Edition)

Titel: Stillmanns Münzen (German Edition)
Autoren: Christian Sidjani
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Großstadt. Und so wie sich mit Michaels Geschichte meine Realität und Fiktion mischten, keimte in mir die Furcht, mich ebenfalls zu verlieren. Wenn nicht in der Stadt, so in der fixen Idee, der hagere Mann könnte mit unserem Mysterium zu tun haben. Denn fixe Ideen sind die Fallgräben unserer Seele.
    Ich war an der Stelle im Buch, wo Paul Auster zwei Zeichnungen der wirren Wege Stillmanns angefertigt hatte, um das Chaos für den Leser wahrnehmbar zu machen, als der hagere Mann meine Bühne betrat. Ich brauchte gar nicht hinschauen. Er unterschied sich von allen anderen, die unterwegs waren, durch eine faszinierende aber furchteinflößende Präsenz. Ich kann nicht sagen, woran das lag, ebenso wenig wie Michael sagen konnte, warum dieser Mann so besonders war, dass er ihm den Donut schenkte. Da stand er, wieder vor den Initialen, der Blick gedankenverloren in der Luft, die hagere Gestalt gelassen angelehnt.
    Zum Alibi hielt ich mir das Buch vor die Nase, aber ich las nicht mehr. Stattdessen hatte ich ihn im Blick, bis die Bahn einfuhr. Dieses Mal sollte er nicht so einfach verschwinden. Und als hätte ihn meine Anwesenheit in dieser Sphäre des Seins gehalten, stiegen wir zusammen ein. Wir benutzten sogar dieselbe Tür.
    Unauffällig wollte ich sein, wie ein alltäglicher Fahrgast, und ich glaube, ich spielte mein Spiel gut. Ich saß ihm direkt gegenüber, doch er reagierte nicht auf mich. Er starrte nur aus dem Fenster, so gedankenverloren, wie er sonst am Geländer stand. Aus nächster Nähe machte er keinen unheimlichen Eindruck mehr, eher den eines Intellektuellen, der wichtigen Theorien nachhing oder im Geiste Reden vorbereitete, die er vor einem größeren Auditorium zu halten gedachte. Seine nachdenklichen Augen hatten nichts Bösartiges mehr an sich und obwohl er als Vorbild für den hageren Mann in Michaels Geschichte diente (seit ich die Notizen entdeckte, war er dafür in meinem Kopf), unterschieden sie sich wie Zwillinge, von denen einer böse, der andere gut war. Um die beiden noch mehr abzugrenzen, gab ich dem Mann mir gegenüber einen Namen. Denn nennt man den Schrecken beim Namen, ist er gar nicht mehr schrecklich und seine Wirkung verpufft. Stillmann taufte ich ihn. Stillmann wie in der Geschichte von Paul Auster, weil ich mich selber wie in einer fühlte.
    Wir fuhren drei Stationen zurück, nach Barmbek, meiner Haupthaltestelle, von der ich nach ganz Hamburg starte. Ich wohne nur fünf Minuten entfernt. Da in Barmbek viele aus- und wieder einstiegen, fiel ich Stillmann nicht auf, als ich hinter ihm auf den Bahnsteig trat. Es wäre nicht einmal aufgefallen, hätten wir einen Anschlusszug genommen. Diesmal wäre ich eine Tür weiter eingestiegen. Aber Stillmann wollte nicht umsteigen. Er benutzte auch keinen der Busse. Stattdessen besuchte er den Kiosk im Inneren des Bahnhofs, um eine Zeitung zu erwerben. Er zahlte mit Kleingeld, das er aus der Hosentasche holte. Ich hatte Mühe, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, als ich mich ebenfalls in die Schlange fügte, zwei Personen hinter ihm, um nicht aufzufallen. Schnell kaufte ich mir Tabak und befürchtete, Stillmann wäre weg, als ich nach draußen trat, aber da stand er, nur wenige Meter von mir entfernt, und blätterte in seiner Zeitung, als täte er lesend, um auf mich zu warten. Ich blieb stehen und drehte mir eine Zigarette. Diese Beschäftigung verschafft einem immer Zeit. Noch bevor ich fertig war, klappte er seine Zeitung zusammen und nahm seinen Weg wieder auf, hinaus aus dem Bahnhof und die Treppen hinunter, die zu den ehemaligen Bushaltestellen führte. Ein Ort, der nun verwahrlost wirkte, mit einem quadratischen, mehrstöckigen Klotz in seiner Mitte, ein geschlossenes Warenhaus, dessen Fassade verdreckt war von Graffiti und Regen und Pisse. Stillmanns Schritt war zügig. Ich hatte Mühe ihm zu folgen. Es sollte nicht so aussehen, als ob ich ihm hektisch folgte. So war mein eigener Gang um einiges gemütlicher. Er schien beschäftigt. Vielleicht musste er pünktlich zu einem Termin erscheinen. Mein Glück war, dass er sich nicht umdrehte. Dann hätte ich mir etwas einfallen lassen müssen, an ihm vorbei gehen und an einer Ecke auf ihn warten. Ich dachte nämlich, Menschen würden es spüren, wenn sie verfolgt werden. So wie man manchmal spürt, wenn man beobachtet wird, in einem Café zum Beispiel, und automatisch zum Beobachter schaut, als wäre sein Blick ein Magnet. Ich dachte, ich würde es auf jeden Fall spüren. Doch Stillmann ging
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