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Stillmanns Münzen (German Edition)

Stillmanns Münzen (German Edition)

Titel: Stillmanns Münzen (German Edition)
Autoren: Christian Sidjani
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nicht mein Begleiter sie mir diktierte, weil sie sich in Struktur und Handlung von all den anderen Geschichten, die ich im Laufe der Jahre schrieb, grundsätzlich unterscheidet. Ich hatte sie damals in einem Schreibdokument festgehalten, den ersten Ansatz davon. Zu mehr reichte es nicht aus. Aber heute habe ich endlich die Zeit, sie ausführlicher zu betrachten. Seit dem, was geschah, spukt sie sowieso in meinem Kopf. Vielleicht kann ich sie heute endlich da raus verbannen und ihre unheimlichen Parallelen zu meinem Leben gleich mit.
     

II
     
    Ich nenne ihn Michael. Das ist der Name, den ich mir als Kind immer wünschte für mich. Damals hasste ich meinen Namen. Ich nenne ihn Michael und auch er arbeitet im Kino; in demselben wie ich oder einem genauen Abbild dessen; aber viel länger als ich. Michael hat keine Ausbildung, wenig Freunde und sieht das Kino als sein Zuhause. Michael, so stellen viele fest, wenn sie ihn näher kennen lernen, ist das Kino, zwar nur ein einfacher Angestellter in Vollzeit, aber mit Seele dabei, auch nach den ganzen Jahren, sagen wir vierzehn. Er ist jemand, der nichts mehr vom Leben erwartet, keinen anderen Sinn sucht, weil die Arbeit im Kino sein Sinn ist. Ich hoffe, ich werde nie so enden, ist das Schreiben doch das Wichtigste für mich; ach was, Michael ist ausgedacht, ich aber bin echt. 
    Genau wie ich liebt Michael Filme. Auch ihm bieten sie Fluchtmöglichkeiten, aber er ist sich nicht bewusst, dass er flieht. Er konsumiert einfach. Oder es ist ihm keine Flucht, sondern er ist glücklich in den Welten anderer. Jedenfalls hätte er nie gedacht, dass er selbst eines Tages in Ereignisse gezogen würde, die wie eine Geschichte in Filmen anmuten.
    Alles beginnt mit dem Finden einer Münze, genau wie bei mir. Es handelt sich um dieselbe amerikanische 'Quarter Dollar'-Münze von 1973, und auch er findet sie im Fahrstuhl, allerdings nicht auf dieselbe Art wie ich. Ohne eine sie dabei, für die ich alles in meinen Händen fallen ließ.  
    Als er den Fahrstuhl benutzt, um nach unten zu gelangen, geschieht gar nichts. Er geht in Gedanken versunken zum Supermarkt, denkt vielleicht daran, in welchen Kinosaal er sich heute schleichen wird und welchen Film er dann teilweise schaut, um zu entscheiden, ob er ihn sich an einem freien Tag anschauen sollte; freie Tage, die mag er nicht und auch dann verbringt er seine Zeit im Kino. Er kauft, was er braucht für seine Pause (Baguette, Aufstrich, Milchschnitten) und als er mit dem Fahrstuhl wieder nach oben fährt, den Knopf für den zweiten Stock soeben gedrückt, funkelt ihn etwas aus den Augenwinkeln an. Es ist wie ein Zeichen, 'schau mal hier, Michael, du wirst etwas Großartiges finden'. Und so schaut er genau hin, zu Boden, und erblickt dort die Münze, hebt sie auf und findet so gar nicht, dass sie etwas Großartiges ist. Er steckt sie nur in die Tasche, später in seinen Spind und vergisst zunächst, dass er sie überhaupt fand. Bis er eines Tages eine zweite Münze findet, auch im Kino, und damit beginnt die eigentliche Geschichte.
     
    Michael gibt sich seinen Routinen genauso gerne hin wie ich, aber wir unterscheiden uns in einer ihm besonders wichtigen Routine: ein Mal in der Woche bringt er seinen Kollegen Donuts mit. Sie sind für ihn ein Symbol seiner Welt (er liebt zum Beispiel 'Twin Peaks' und 'Die Simpsons'). Es ist nicht so, dass er sich damit das Wohlwollen seiner Kollegen erkaufen oder einen anderen Zweck erfüllt sehen möchte. Es ist so, wie es ist und es gehört dazu. Michael kauft allen dieses Zuckergebäck an einem bestimmten Tag in der Woche, sagen wir Donnerstag. Und von allen wird er Donuttag genannt, welcher nur ausfällt, wenn Michael mal erkrankt, was selten ist, aber schon vorkommt. Und tatsächlich, so meint er, vermissen seine Kollegen etwas am Donuttag, wenn es keine Donuts gibt.
    Als Michael die zweite Münze findet, ist wieder Donuttag. Wie immer kauft er beim Bahnhofs-Bäcker sechs mit Schokolade, drei mit Zucker und vier mit Glasur. Es sind vierzehn Leute pro Schicht in der Woche, aber Michael weiß, dass Daniela keine isst, weil sie Veganerin ist; Daniela, die stets alles besser weiß, vielleicht die Einzige, von der Michael genervt ist, obwohl er eigentlich alles hinnehmen kann, wie es ist.
    Wie immer stellt er einen Karton in den Aufenthaltsraum, der auch als Küche dient, und wie immer ist Ralf der erste, der sich einen Donut nimmt. Er sagt nichts, als er ihn in der Hand hat und auch nicht, nachdem er ihn
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